Der Verlauf einer Demenz: Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben

Edda Klessmann hat mit “Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben” ein empfehlenswertes Buch für Betroffene und pflegende Angehörige geschrieben. Das Besondere daran: Die Autorin – Kinderärztin und Psychotherapeutin – dokumentiert die zehnjährigen Verlaufsgeschichte einer Alzheimer-Demenz aus zwei Perspektiven. Zum einen die persönliche Dimension, die intensive Begleitung der Mutter durch die Tochter, zum anderen die Kommentierung dieser Geschichte aus fachlicher Sicht.

Dies ist der abschließende Beitrag innerhalb der Serie “Betroffene berichten: Der Verlauf einer Demenz”. Wir eröffneten diese Serie zunächst mit einem Beitrag zu der Ausgangsidee, befassten uns mit Erkenntnissen aus der Forschung und bezogen diese Erkenntnisse auf zwei Angehörigengeschichten.

Zunächst das Tagebuch von Katja Hörter, die ihre demenzkranke Großmutter bis zum Tode pflegte. Dann die Graphic Novel “Das große Durcheinander”, in der Sarah Leavitt die Pflege ihrer demenzkranken Mutter noch einmal Revue passieren ließ.

In all diesen Fällen haben wir uns gefragt: Gibt es bei Alzheimer so etwas wie Muster, wie typische Konfliktkonstellationen und immer ähnlich auftretende Symptome, die je nach Phase, ob frühes, mittleres oder spätes Stadium, bei allen Menschen zu beobachten sind, was den Verlauf von Alzheimer anbelangt, die mit Abstand bekannteste Form von Demenz?

Und was daran ist das eigentlich Individuelle? Wo gibt es besondere Ereignisse, besondere Zwischenfälle, Abweichungen und Momente der Hoffnung und des Glücks, die eigentlich immer anders auftreten, je nachdem von welchen Menschen wir sprechen, von welchen Familien und Beziehungskonstellationen?

In “Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben” gibt es zunächst diese Doppelbotschaft: “Hilf mir! Nein, ich kann alles noch allein!”. Angehörige, die schon einmal einen Menschen mit Demenz gepflegt haben, kennen diese Botschaft.

Menschen, die an Demenz erkranken, verhalten sich einerseits in ihrer Hilflosigkeit zuweilen wie Kinder, während die Kinder “zu ihren Eltern werden”. Andererseits gibt es diesen inneren Widerstand auf der Seite der Betroffenen, der nie ganz in dieser neu zugeschriebenen Rolle aufgeht: “Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben”.

So wie es hier zwei Ebenen gibt, so gibt es auch auf der Erzählebene innerhalb dieses Buches zwei unterschiedliche Dimensionen: Einerseits die Geschichte der Tochter, die sich über einen Zeitraum von 10 Jahren über ihre demenzkranke Mutter kümmert, andererseits die fachliche Reflexion dieser Verlaufsgeschichte.

Das, was Klessmann auf dieser Ebene schildert, in den Kommentaren, hat zuweilen etwas mit der Grundlagenforschung zu tun, etwa die Frage, wann wir überhaupt im diagnostischen Sinne von einer Demenz sprechen können. Daneben gibt es aber auch psychoanalytisch geprägte Passsagen, etwa wenn von Eltern- und Kinder-Ich die Rede ist.

Bemerkenswert daran ist die Beobachtung, dass die persönliche Geschichte von Klessmann zuweilen in den wissenschaftlichen Kommentaren aufgeht, wenn es beispielsweise um typische Konstellationen im Verlauf der Krankheit geht, was beispielsweise einzelne Symptome im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit anbelangt, andererseits gibt es aber auch die subjektiven Momente, die sich dieser Logik entziehen.

Die frühe Phase

Im ersten Kapitel mit dem Titel “Erstes Stadium der Alzheimer Krankheit” beschreibt Klessmann die ersten Symptome im Verhalten ihrer Mutter: sie hörte mit ihrem jahrzehntelang gepflegten Hobby der Malerei auf, das altvertraute Stricken gelang nicht mehr, ständig waren Geldbörse und Brieftasche verlegt. Sie vergaß die Wohnungstür zu schließen, die Wasserhähne abzudrehen und den Herd auszustellen.

“Mutter, die in ihrer unruhigen Zeit überhaupt nicht mehr auf diese Musik reagiert hatte, öffnete jetzt erstaunt die Augen und suchte offensichtlich die Quelle der Musik. Dann schloß sie die Augen wieder und faltete die Hände. Sie sagte glücklich und ergriffen: Schön.”

Und wo die Mutter zunächst weit entfernt allein von der Tochter lebte, nahm die Tochter die Mutter in das Haus ihrer Familie auf.

Man kann dieses erste Kapitel auch unter der folgenden Frage zusammenfassen: Wie kann man die Krankheit einordnen und besser damit umgehen? Wie stellt man sich auf die neue ungewohnte Pflegesituation ein?

Individuell sind da zunächst die Freizeitbeschäftigungen der Mutter, etwa das über Jahrzehnte gepflegte Hobby der Malerei. Weniger individuell dagegen die “Dyspraxie”, wie es in den Kommentaren heißt. Darunter versteht man bestimmte Handlungsabläufe und koordinierende Tätigkeiten, die nicht mehr ausgeführt werden können. Schon in der ersten Phase ihrer Krankheit kann die Mutter ihren Hobbys nicht mehr nachgehen.

Die mittlere Phase

Das folgende Kapitel mit dem Titel “Zweites Stadium” enthält die wachsenden Schwierigkeiten in der Betreuung der Mutter: die nächtliche Unruhe, die Harn- und Stuhlinkontinenz , die erforderlichen Hilfestellungen beim Aufstehen, Ankleiden, Waschen und Essen.

In dieser Phase sind die Tochter und auch ihr Ehemann am Ende ihrer Kräfte, so dass eine Heimeinweisung in die Wege geleitet wird. Ausführlich werden die anfänglichen Schwierigkeiten der Eingewöhnung in den Heimalltag beschrieben. 

Dieses Kapitel könnte man dann auch mit der Frage “Soll meine Mutter tatsächlich in ein Pflegeheim?” umreißen. Für viele Angehörige ist dieser Punkt zweifelsohne mit einem “Psychodrama” verbunden, wogegen allenfalls das “Psychotherapeutikum” Humor hilft.

Denn die eigentliche Frage über Jahre lautet ja immer wieder: “Wo liegt eigentlich die Grenze der ambulanten Belastbarkeit?”.

Individuell sind in der Geschichte von Klessmann jene Momente in der mittleren Phase, wo die Mutter gegen alle Erwartungen auch immer wieder gefasster und weniger hilflos wirkt. Andererseits wusste die Tochter aber auch, dass sie den Belastungen über Dauer nicht mehr gewachsen sein würde. Und diese Gewissheit tritt wiederum recht häufig in der mittleren Phase auf.

Die späte Phase

“Arrangement mit dem Tod”, das ist die zentrale Botschaft dieses Kapitels, das Abschiednehmen.

“Drittes Stadium” bezeichnet die Autorin das letzte Kapitel, in dem sie den zunehmenden körperlichen Verfall aufzeichnet.

Ein kleiner Schlaganfall, die Gangunsicherheit, die Schwäche und der Kräfteverlust werden registriert. Durch die ständige Bettlägerigkeit entstehen Druckgeschwüre (Dekubitus). Auch das Reden hat die mittlerweile 90jährige verlernt, die Kontaktaufnahme vollzieht sich zusehends über Berührungen und Streicheln. Die Tochter berichtet aufrichtig, wie schwer ihr nun die Besuche fallen. Die abschließenden Ausführungen haben das Sterben zum Inhalt.

Aber auch hier gibt es wieder die Momente, die sich jeglichen Erwartungen und Mustern entziehen. Das stimmt bei aller Tragik auch positiv.

Wo beispielsweise beinahe das gesamte Umfeld bereits jegliche Hoffnung verloren hatte, fing die Mutter wieder an zu essen und trinken; die Lebensgeister meldeten sich quasi zurück.

Im Buch heißt es an dieser Stelle: “Was niemand für möglich gehalten hätte, Mutter aß und trank von einem Tag auf den anderen wieder etwas mehr. Sie erkannte auch ihre Umgebung wieder und war offensichtlich aus unbekannter Ferne zurückgekehrt.”

Und auch noch einige Tage, bevor das endgültige Ende hereinbrach, wurde der Mutter immer wieder ein Stück aus Bachs Weihnachtsoratorium vorgespielt. Auch hier geschah etwas Unerwartetes.

“Mutter, die in ihrer unruhigen Zeit überhaupt nicht mehr auf diese Musik reagiert hatte, öffnete jetzt erstaunt die Augen und suchte offensichtlich die Quelle der Musik. Dann schloß sie die Augen wieder und faltete die Hände. Sie sagte glücklich und ergriffen: Schön.”

Das Buch “Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben” ist 2006 in der 7. ergänzenden Auflage im Huber Verlag erschienen. Hier der Link zum Buch: hier: https://www.amazon.de/Wenn-Eltern-Kinder-werden-bleiben/dp/345684364X

Bildangabe zum Titelbild:

Photo credit: arbeer.de on Visual hunt / CC BY-NC-SA

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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