Der Verlauf einer Demenz: Erkenntnisse aus der Forschung

In der neuen Serie “Betroffene berichten: Der Verlauf einer Demenz” zeigt Marcus Klug auf der Basis von drei außergewöhnlichen Fallbeispielen auf, wie sich die Krankheitsgeschichten von Menschen mit Demenz “lesen” lassen. Und zwar als Konglomerat von höchst subjektiven Gegebenheiten und wissenschaftlich nachweisbaren Mustern.

Bevor wir uns in den nächsten Beiträgen innerhalb dieser neuen Serie intensiver mit drei Fallgeschichten beschäftigen, geht es in diesem Überblicksartikel zunächst um die Frage, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem Verlauf einer Demenz von Bedeutung sind. Gibt es also bestimmte Muster, die bei einer solchen Demenzform wie Alzheimer immer wieder auftauchen, was das Krankheitsbild, den kognitiven Abbau, den zeitlichen Verlauf und bestimmte Verhaltensweisen anbelangt?

Die Idee besteht darin, die gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus diesem Überblicksartikel auf die in dieser neuen Reihe noch folgenden Betroffenengeschichten anzuwenden. Zu nennen wäre hier die Geschichte von  Katja Hörter und ihrer demenzkranken Großmutter. Und dann folgen noch ausführlichere Besprechungen der beiden Bücher “Wenn Eltern Kinder werden und doch die Eltern bleiben” von Edda Klessmann und die Graphic Novel “Das große Durcheinander” von Sarah Leavitt.

Geteiltes Glück: Freude am Tanzen mit und ohne Demenz

In allen drei Beispielen werden wir uns auf der Grundlage dieses Überblicksartikels immer wieder fragen, was an diesen Geschichten als subjektiv und ereignishaft bezeichnet werden kann und was dagegen im Krankheitsverlauf für übergeordnete Muster spricht.

Im Kern geht es dabei auch um Momente des Glücks und der Hoffnung. Ein Beispiel dazu ist die Graphic Novel “Das große Durcheinander”, in der Sarah Leavitt jene Momente im Zusammenleben mit ihrer demenzkranken Mutter beschreibt, die sich in kein wissenschaftliches Raster einfügen lassen, etwa wenn die Tochter und ihr Mann zusammen mit der Mutter zu der Musik von Manu Chao tanzen.

Alzheimer und andere Formen von Demenz

Der Oberbegriff “Demenz” steht heute für rund 50 Krankheiten, wobei mit “Demenz” seit der Antike eine Person assoziiert wird, die “nicht bei Verstand” ist.

Die bekanntesten Formen:

  • Alzheimer tritt besonders bei Personen ab dem 65. Lebensjahr auf, wobei sich das Risiko mit dem Alter noch weiter erhöht, von dieser Krankheit betroffen zu sein. Von den über 90-Jährigen leidet gar jeder Dritte an Alzheimer, so die Statistik. Somit ist Alzheimer die “Krankheit des Vergessens”, die besonders im Alter auftritt.
  • Vaskuläre Demenz ist nach Alzheimer die häufigste Form der Demenz. Sie ähnelt der Alzheimer-Krankheit sehr stark, wobei die Symptome allerdings anders ausfallen. Im Vordergrund stehen nicht Gedächtnisstörungen, sondern Verlangsamung, Denkschwierigkeiten oder Eintrübung der Stimmung. Ebenso wie Alzheimer tritt sie vor allem im Alter auf.
  • Lewy-Body oder Lewy-Körperchen Demenz ähnelt der Alzheimer-Krankheit ebenfalls sehr stark, wodurch sie schwer voneinander zu unterscheiden sind. Es ist deshalb nicht leicht zu klären, in welchem Umfang Mischformen der beiden Demenzen vorkommen. Kennzeichnend für eine Lewy-Körperchen-Demenz sind unter anderem optische Halluzinationen, die oft sehr detailreich sind, sowie leichte Parkinsonsymptome (unwillkürliches Zittern der Hände, Steifigkeit der Bewegungen). Ebenso wie Alzheimer tritt sie vor allem im Alter auf.
  • Frontotemporale Demenz – vereinzelt auch “Pick-Krankheit” genannt – ist eine eher selten auftretende Demenzform. Die Ursache für eine FTD ist ein Nervenzelluntergang im Bereich des Frontalhirns (Frontal- und Temporallappen). Im Vordergrund der Symptomatik stehen Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens. Die Frontotemporale Demenz beginnt in der Regel mit Störungen des Sozialverhaltens. Im Gegensatz zu Alzheimer ist die Alterspanne der Erkrankten jedoch verhältnismäßig groß. Sie reicht in etwa von 20 bis 85 Jahren.
  • Demenz bei Morbus Parkinson zeichnet sich in der Symptomatik vor allem durch die chronischen Verlangsamung aller Bewegungsabläufe aus, einer Unfähigkeit neue Bewegungen zu initiieren sowie einer Störung der Feinmotorik (sogenannte “Hypokinese”). Obwohl bei den Patienten keine wirklichen Lähmungen vorliegen, kann die Bewegungsstörung so schwere Ausmaße annehmen, dass die Betroffenen völlig bewegungslos und starr erscheinen (sogenannte “Akinese”). Ebenso wie Alzheimer tritt sie vor allem im Alter auf.
  • Creutzfeldt-Jakob Krankheit ist eine tödlich verlaufende Krankheit des Nervensystems. Patienten leiden an schnell fortschreitender Demenz, Bewegungsstörungen oder Muskelzuckungen. Das Erkrankungsrisiko nimmt mit steigendem Alter zu, und der Erkrankungsgipfel liegt um das 70. Lebensjahr.

Bei all diesen Demenzformen sind drei Schwerpunkte zu charakterisieren, die sich teilweise überlappen: Zunächst sprechen wir vor allem von dem Abbau des Gedächtnisses (etwa bei Alzheimer). Bei dem zweiten Punkt geht es um Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens (etwa bei einer Frontotemporalen Demenz). Und bei dem dritten Punkt sprechen wir von Bewegungsstörungen und Muskelzuckungen, die mit nervlichen Veränderungen zusammenhängen (etwa bei Morbus Parkinson oder bei der Creutzfeldt-Jakob Krankheit).

Die Diagnose

Nehmen wir als Beispiel die Diagnose der am häufigsten auftretenden Form von Demenz: Alzheimer. Bis heute gibt es keinen hundertprozentig sicheren Test zur Diagnose von Alzheimer. Eine 100 Prozent-Diagnose ist erst nach dem Tode anhand von Gewebeproben möglich. Um den Ausschluss von anderen Krankheiten zu gewährleisten, muss der Arzt oder Neurologe differentialdiagnostisch vorgehen. Häufig ist darüber hinaus auch zu lesen, dass kognitive Störungen wie eine ausgeprägtere Form von Vergesslichkeit mindestens über einen Zeitraum von sechs Monaten vorhanden sein sollte.

Bei der Diagnose spielt auch das Bildungsniveau eine Rolle. So kommen manche wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis, dass ein höheres Bildungsniveau zu besseren Testergebnissen führt und damit die Wahrscheinlichkeit einer Demenzdiagnose reduziert.

Bei der Differentialdiagnose wird so vorgegangen, dass Krankheiten, die ähnliche Symptome aufweisen, ausgeschlossen werden. Im Vergleich zu Alzheimer wären beispielsweise von der Symptomatik solche Krankheiten wie Parkinson, Multiple Sklerose und psychische Erkrankungen wie Depression zu nennen. Im oben angeführten Ton-Dokument wurde diese differentialdiagnostische Vorgehensweise und die dabei möglicherweise auftretenden Probleme anhand einer spannenden Fallgeschichte näher beschrieben: “Alzheimer mit dem Spürsinn von Sherlock Holmes auf der Spur”.

Eine gründliche Diagnose beinhaltet folgende Aspekte:

  • komplette Krankengeschichte und körperliche Untersuchung des Patienten
  • Blut- und Urinuntersuchungen im Labor, um Infektionen und andere Krankheiten auszuschließen
  • Tests zur Früherkennung von Demenzen (beispielsweise Mini Mental Status Test (MMST), der DemTect, Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD) und so weiter.

Mit diesen Tests lässt sich eine Verdachtsdiagnose stellen, Patienten sollten zur Diagnosesicherung und Differentialdiagnose allerdings auch zum Neurologen überwiesen werden. Dann können weitere spezielle neuropsychologische Tests (z.B. CERAD, ADAS-cog oder SIDAM) durchgeführt und eine ausführliche neurologische Untersuchung veranlasst werden, wie:

  • ein Elektroenzephalogramm (EEG)
  • ein Computer-Tomogramm (CT)
  • ein Kernspin-Tomogramm (MRT)
  • oder eine Positronen-Emissions-Tomografie (PET) bzw. eine Einzelphotonen-Emissions-Computer-Tomografie (SPECT)

Dann gibt es noch erblich bedingte Risikofaktoren, die das Auftreten einer Demenz vom Typ Alzheimer deutlich begünstigen können. Dazu gehört das Gen ApoE4 und weitere assoziierte Gene, wie sie in einer genomweiten Assoziationsstudie genetischer Daten von knapp 60.000 Menschen untersucht und ausgewertet worden sind.

Der Verlauf

Bei der Alzheimer-Demenz wird von drei verschiedenen Stadien im Verlauf gesprochen. Die Lebenserwartung nach der Diagnose bis zum Tod liegt im statistischen Durchschnitt in etwa bei 7 Jahren (teilweise ist auch von 8 bis 9 Jahren zu lesen). Dabei stirbt man nicht an der Demenz selbst, sondern an den Folgen. Ein Beispiel wäre der Tod an einer Lungenentzündung im Spätstadium, weil das Immunsystem unter anderem bedingt durch Bettlägerigkeit und fehlenden Bewegungsausgleich stark nachlässt.

Symptome im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit

1. Stadium

  • Gedächtnisstörungen, vor allem für die Einspeicherung neuer Informationen
  • beginnende Orientierungseinbußen
  • allmähliche Minderung der kognitiven Leistungsfähigkeit (auch Konzentrationsfähigkeit)
  • häufig inhaltsarme, floskelhafte Redewendungen
  • Absinken des Aktivitätsniveaus oder auch ziellose Unruhe
  • mitunter depressive Verstimmungen oder auch jähzorniges, reizbares Verhalten (vor allem bei Überforderung)

2. Stadium

  • weiter fortschreitende Gedächtnis- und Orientierungsstörungen
  • zunehmende Einschränkung von Urteils- und Denkvermögen
  • Wortfindungsstörungen, verminderte Sprachfähigkeit
  • abnehmende Fähigkeit, komplexe Tätigkeiten auszuführen
  • selbständige Lebensführung nicht mehr möglich
  • häufig verbindliche Freundlichkeit und Lenkbarkeit, mitunter flüchtige Trugwahrnehmungen (Halluzinationen)

3. Stadium

  • Kognitive Leistungsfähigkeit weitgehend aufgehoben
  • häufig stark reduzierte mimische Expressionsfähigkeit, Emotionen lassen sich nicht mehr im Gesicht “lesen”
  • häufiges Auftreten neurologischer Störungen, etwa Harn- und Stuhlinkontinenz, Gangstörungen, völlige Immobilität und Bettlägerigkeit

Verhaltensmuster

In Übereinstimmung mit der Trait-Theorie der Persönlichkeit sind im höheren Alter keine gravierenden Veränderungen im Persönlichkeitsgefüge zu erwarten, mit Ausnahme von extremen bzw. besonders prägenden Erfahrungen (etwa Krankheit, Arbeitslosigkeit).

Allerdings sind diese Veränderungen von jenen Entwicklungen in der Persönlichkeit zu unterscheiden, die mit dem Verlauf einer spezifischen Demenzform wie Alzheimer zusammenhängen und die auf neurologische Störungen zurückzuführen sind.

So weisen Untersuchungsergebnisse der gerontopsychiatrischen Persönlichkeitsforschung darauf hin, dass es im Verlauf der Alzheimer-Demenz zu Veränderungen im Persönlichkeitsgefüge kommt, also die Demenzerkrankung verschiedene Dimensionen der Persönlichkeit beeinflusst. So wird eine Zunahme des Neurotizismus und eine Abnahme der Extraversion, der Gewissenhaftigkeit, der Offenheit für Erfahrungen und der Verträglichkeit registriert (sogenannte „Big Five“).

Diese Ergebnisse, wie auch die Definition der Alzheimer-Demenz nach der internationalen Klassifikation der WHO (ICD-10), bei der als Wesensänderungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten die Verschlechterung der emotionalen Kontrolle und Störungen des Sozialverhaltens sowie der Motivation genannt werden, legen die Vermutung nahe, dass es im Rahmen einer Demenzform wie Alzheimer (je nach Stadium) zu einer Veränderung der Persönlichkeit kommt, die stark von der Krankheit geprägt wird.

Daneben gibt es weitere sogenannte “Herausfordernde Verhaltensweisen”, die immer wieder im Zusammenhang mit Demenz genannt werden: Dazu gehören Antriebsstörungen, Misstrauen und Aggressivität, Angst und Depression, Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus, Wahn, Halluzinationen und Lügen, sowie ein gestörtes Sexualverhalten.

Den geistigen Abbau um Jahre hinauszögern

Bei der Frage, inwieweit der geistige Abbau bei einer Demenz wie Alzheimer um Jahre hinausgezögert werden kann, gibt es in der Wissenschaft zahlreiche sich stark voneinander unterscheidende Ergebnisse.

Dennoch möchte ich auf eine Beobachtung sowie eine herausragende Studie zu dieser Frage hinweisen.

Der Psychogerontologe Prof. Dr. Wolf D. Oswald geht beispielsweise davon aus, dass sich die Symptomatik bei Alzheimer im Verlauf eines Jahres stabil halten lässt, wenn frühzeitig erkannt, gehandelt wird. Das ist ganz entscheidend, so Oswald, denn Depressive neigen oft dazu, über ihre Situation zu lamentieren, während Demenzpatienten dazu neigen, ihre Ausfälle zu überspielen.

„Wir können Alzheimer zwar nicht heilen, aber durch geeignete kognitive und psychomotorische Therapien das Fortschreiten des Krankheitsverlaufs verzögern“, erläutert Oswald. Seine Beobachtung: Wenn Alzheimerpatienten im Frühstadium Wahrnehmung, Koordination und Gleichgewicht schulen, lässt sich die Symptomatik zumindest für einige Zeit stabil halten. Bei Kontrollpersonen ohne entsprechende Übungseinheiten verschlechterten sich die kognitiven Fähigkeiten dagegen weiter. 

Neben dieser Erkenntnis möchte ich noch auf eine Studie aus Finnland hinweisen. Die FINGER-Studie (Finnish Geriatric Intervention Study) ist die erste große Interventionsstudie aus dem Jahr 2015, die einen multidimensionalen Ansatz zur Prävention kognitiver Einschränkungen bei älteren Personen verfolgt. An der skandinavischen Studie nahmen 1.260 Probanden im Alter zwischen 60 und 77 Jahren teil, die bereits Anzeichen einer beginnenden Demenz aufwiesen. Die kognitiven Funktionen wurden zu Beginn der Studie sowie nach zwölf und 24 Monaten mit einer ausführlichen neuropsychologischen Testbatterie untersucht.

Das Ergebnis dieser Studie: Es ist davon auszugehen, dass eine ausgewogene Ernährungsweise im Alter, regelmäßiges körperliches und kognitives Training vor und kurz nach der Demenz-Diagnose entscheidend dazu beitragen, den geistigen Abbau um Jahre hinauszuzögern.

Weiterführende Links und Quellen

Quellenangaben zu den Fotos:

Foto: Stephan Böhling / www.flickr.com

Foto: vrot01 / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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