Fallbesprechungen: Anleitung zum (Un-)Glücklichsein

Dies ist der Einstiegsbeitrag zum Thema Fallbesprechungen. “1983 ertrank Amerika in einer Welle von how to-Büchern”, so Paul Watzlawick. Als Gegenentwurf dazu folgte sein weltberühmtes Buch “Anleitung zum Unglücklichsein”. Ein intellektueller satirischer Seitenhieb auf die damalige Beratungsindustrie in der USA und deren falsche Versprechungen. Bei Fallbesprechungen stellt sich eine ähnliche Frage: Wie sehen solche Besprechungen aus, wenn sie am Ende nicht unglücklich machen?

Es gibt im Grunde nur zwei Fragen, die mich an Fallbesprechungen interessieren. Die erste Frage lautet: Wie kann man mit Fallbesprechungen Probleme lösen und nicht verstärken? Die zweite Frage lautet: Wie funktionieren Fallbesprechungen im methodischen Sinne?

In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit der ersten Frage und gebe zudem einige weiterführende Hinweise zum Thema Fallbesprechungen, die ich im Internet entdeckt habe. Ich bin kein Experte für Fallbesprechungen und nehme dabei wie auch vielleicht die ein oder andere Person von Ihnen die Außenperspektive als Beobachter ein.

Zeitalter der Empathie

Spiegelneuronen: Gegenseitige Ansteckung durch Emotionen

Aktuell sind Fallbesprechungen sehr beliebt; übrigens längst nicht nur in der Pflege und Psychiatrie. Fallbesprechungen findet man genauso in Büchern zu Unternehmenskommunikation, Marketing und PR, selbstverständlich in unzählig vielen Beratungsbüchern zu allen möglichen Lebensfragen und Alltagsproblemen, in der Organisationsberatung sowie in Businessbüchern, oder gar in Romanen und Kurzgeschichten. Warum?

Fallbesprechungen wirken emotional und sind daher besser für unser Gedächtnis einprägsam. Fallbesprechungen sind also gewissermaßen “gehirngerecht”. Sie lockern spröde Sach- und Beratungsliteratur auf und bringen im besten Fall ein paar knackige und knifflige Beispiele für Problemkonstellationen in unserem Alltag, in zwischenmenschlichen Beziehungen, die nicht einfach so mal eben lösbar sind ;-) Das passt gut in eine Zeit, in der viele kritische Journalisten über zu viel empathische Nähe klagen.

Zeitalter der Empathie: Wenn Du lachst, lach ich auch. Und wenn es Dir einmal nicht so gut geht, dann versuche ich eben zu verstehen, warum es Dir nicht so gut geht und so weiter. Dass wir an sich den Anderen nicht wirklich verstehen können, ist dabei eine systemtheoretische und konstruktivistische Einsicht, die zuweilen auch tragische Züge einnehmen kann. Man nehme als Beispiel zu dieser Behauptung aktuell nur die Vorfälle in Paris, den Anschlag in der Redaktion der Satirezeitung “Charlie Hebdo”. Wie weit kommen wir in diesem Fallbeispiel mit unserer Vorstellung von Empathie? Aber das ist eine andere Geschichte …

Fallbesprechungen in der Psychiatrie

Nun folgt die kurze Geschichte mit der Systemtheorie. Bei meiner Recherche zu einzelnen Quellen im Internet, bin ich zunächst auf verschiedene Quellen und Funde gestoßen. Ein Titel fand ich dabei besonders prägnant: “Die Kunst, bei Fallbesprechungen (un-)glücklich zu sein”, ein Titel, der auf die systemtheoretische Reflexion von Fallbesprechungen anspielt und mögliche Probleme in der Interventionspraxis. Dazu gleich noch mehr ;-) Ansonsten “Selbstreflexion und Kollegiales Coaching – Handlungsoptimierungen in Streetwork und Mobile Jugendarbeit” oder auch “Ablaufplan bei Verdacht auf einen problematischen Alkoholkonsum”.

Wirklich spannend wurde es aber für mich erst, als ich einen Werkstattbericht zu Fallbesprechungen in der Psychiatrie entdeckte: “Systemische Akutpsychiatrie: Ein Werkstattbericht”. Warum? Derartige Fallbesprechungen gründen im system- und kommunikationstherapeutischen Sinne auf das Verständnis psychiatrischer Symptome. Sie versuchen im Dialog bzw. im gemeinsamen Gespräch mit Patient, Angehörigen und anderen wichtigen Beteiligten, schwer verständliches psychiatrisch auffälliges Verhalten und dessen Einbindung in die Beziehungssituation des Patienten “verstehbar” zu machen und aus diesem Verständnis neue Lösungen zu entwickeln.

Ein derartiger Fallbesprechungs-Ansatz bietet sich auch für die Besprechung von herausfordernden Verhaltensweisen in der Versorgung von Menschen mit Demenz an, da deren Verhaltensweisen wie Aggression, Schreien und Apathie häufig nicht auf einfache Weise zu verstehen sind. Vielfach macht es daher Sinn, verschiedene Experten (etwa Psychiater, Mediziner und Supervisoren) und Praktiker (etwa professionelle Pflegekräfte) an derartigen Fallbesprechungen zu beteiligen, da die möglichen Ursachen für einzelne herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz häufig recht komplex sind.

Auf der Tagung “Möglichkeiten und Grenzen psycho-sozialer Interventionen bei Demenz” wird das Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) am Nachmittag einen derartigen Fallbesprechungs-Ansatz verfolgen. Christian Müller-Hergl wird eine systemisch-geprägte offene Fallbesprechung mit verschiedenen Experten und Praktiker auf der Tagung am Nachmittag moderieren: dazu gehören unter anderem Experten und Praktiker aus den Bereichen Medizin, Pflege, Gerontopsychiatrie, Verhaltensforschung und Psychobiologie. Hier erfahren Sie mehr: Programm zur Fachtagung.

Die Kunst, bei Fallbesprechungen (un-)glücklich zu sein

Manche Autoren, wie Matthias Krüger und Paul-Otto Schmidt-Michel, die wie im Falle des Artikels “Die Kunst, bei Fallbesprechungen (un-)glücklich zu sein” Fallbesprechungen systemtheoretisch hinterfragen, plädieren für einen offenen Fallbesprechungs-Ansatz. Das basiert zum Teil auf der systemtheoretischen und konstruktivistischen Annahme, dass die Lösung von Problemen erst zu den eigentlichen Problemen führt, was an sich eine Paradoxie ist ;-)

Das Buch “Anleitung zum Unglücklichsein” von Paul Watzlawick enthält zahlreiche Fallbeispiele aus dem Alltag, in dem Menschen versuchen, Probleme auf eine Weise zu lösen, die zu weiteren noch viel schlimmeren Problemen führt. Ein ganz wichtige Beobachtung ist dabei, dass man die eigenen Gedanken mit der Realität verwechselt bzw. Modelle und Theorien für das Abbild der Realität hält: das berühmte Beispiel vom Hammermann von Watzlawick.

Mir fällt dazu auch noch ein anderes Beispiel aus der Pflege ein, und zwar der Irrglaube, mittels exzessiver Pflegedokumentation an sich schwierige Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz per Analyse zu klären und zu lösen. Häufig wird nämlich durch übermäßige Dokumentation das Gegenteil in der Pflege bewirkt: Pflegende und Betroffene, die schon an sich – je nach herausfordernder Situation – viel Stress zu bewältigen haben, werden durch übermaßige zusätzliche Dokumentationspflichten noch weiter unter Stress gesetzt. Das ist genau der Gedanke, den Systemtheoretiker und Konstruktivisten im Kopf haben, wenn sie davon sprechen, dass manche Problemlösungsansätze erst zu weiteren Problemen führen und diese somit verstärken, in der Art einer negativen Rückkoppelungsschleife.

Der Beitrag von Krüger und Schmidt-Michel plädiert deshalb für einen offenen Fallbesprechungsansatz, also “Fallbesprechungen bewusst mit der Grundhaltung der Ziellosigkeit zu führen, weil sie dann – paradoxerweise – am ehesten ihren Zweck erfüllen, die jeweils zuständigen Teammitglieder zu `guten Entscheidungen´ zu befähigen.

“Die auf Ziele und Zwecke hin ausgerichtete Fallbesprechung (Klärung, Analyse, argumentatives Entwickeln einer Entscheidungsfindung) leistet das nicht bzw. führt zu Entscheidungen, die sich im Nachhinein oft als unpassend erweisen.” Matthias Krüger, Paul-Otto Schmidt-Michel

Ausblick

Im nächsten Beitrag zum Thema Fallbesprechungen werden wir uns mit der zweiten Frage beschäftigen: Wie funktionieren Fallbesprechungen im methodischen Sinne? Schließen sich nicht Methode und offene Fallbesprechung gegenseitig aus? Mal schauen …

Quellenangaben zu den Fotos:

Foto: Kelsey Swanson / www.flickr.com

Foto: Annechien Wijnbergh / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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