Tom Kitwood hat mit seinem personzentrierten Ansatz in der Pflege von Menschen mit Demenz den Blick von der Pathologie auf die Persönlichkeit gelenkt. In diesem Beitrag hat sich Marcus Klug mit folgender Frage beschäftigt: Was hat das Werk von Tom Kitwood mit Persönlichkeitspsychologie zu tun?
Was lerne ich über die Persönlichkeit von anderen Menschen, wenn ich mitten im Verfall versuche, ihre Persönlichkeit zu erhalten, zu fördern, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass die Persönlichkeit am Ende, im letzten Stadium der Demenz, in der letzten Phase ihres Lebens, endgültig erloschen sein wird? Ist das nicht ein vollkommen hoffnungsloses Unterfangen? Welche Erkenntnisse nehmen mir die Angst vor dem Ende des Personseins? Das sind alles pathologische Fragen. Und rein psychologisch besteht bei diesen Aspekten die Angst im Mittelpunkt der Betrachtung, die Angst vor dem Verlust und dem Loslassen.
Können wir diese Perspektive auch umkehren, können wir aus der Dunkelheit in das Licht eintreten? Das ist die eigentliche Frage von Tom Kitwood. Gegen die Pathologisierung des Lebens. Was bedeutet Lebensqualität für eine Person mit Demenz? Was bedeutet das für den Erhalt und die Förderung ihrer Persönlichkeit?
Persönlichkeitspsychologie für Pflegende
In der Reihe “Persönlichkeitspsychologie für Pflegende” beschäftigen wir uns mit der Frage, inwiefern Pflegende von einzelnen Erkenntnissen und Instrumenten der Persönlichkeitspsychologie profitieren können. Modelle wie das integrative Modell von McAdams und Pals (2006) geben Auskunft darüber, wie grundlegende Umwelteinflüsse auf die Entwicklung unserer Persönlichkeit einwirken. Außerdem haben wir uns in dieser Reihe mit dem Big Five-Persönlichkeitsmodell befasst und den 16 Lebensmotiven nach Steven Reiss.
Die Beschäftigung mit diesen Modellen und unterschiedlichen Persönlichkeitstests zielte auf die Frage ab, inwieweit uns die Erkenntnisse und Testverfahren der Persönlichkeitspsychologie in der Pflege dabei helfen, die Bedürfnisse und Werte von Menschen mit Demenz besser zu erkennen. Die Basis dazu liefert die tiefere Einsicht in die eigene Natur: Denn wenn wir unsere eigenen Motive und Bedürfnisse besser kennen, können wir auch die Motive und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz besser einschätzen.
Ich betrachte das als Spiegelverhältnis, auch wenn Werte und Persönlichkeit nicht kongruent zueinander verlaufen. Aber an der Grenze meiner eigenen Bedürfnisse und Wertevorstellungen und den Bedürfnissen und Wertevorstellungen jener Personen, die ich pflege, setzt für mich der eigentliche Lernprozess ein.
In diesem Beitrag geht es um den person-zentrierten Ansatz von Tom Kitwood, der wiederum als Theorie und Wertmaßstab das Grundgerüst für das Beobachtungsinstrument Dementia Care Mapping (DCM) bildet. DCM, eine seit 1998 international erfolgreich eingesetzte Beobachtungsmethode, bietet insbesondere Pflegenden die Möglichkeit, den Alltag eines Menschen mit Demenz abzubilden. Mit Hilfe dieser Methode kann es gelingen, detaillierte Auskunft darüber zu erhalten, welche Vorlieben oder Abneigungen eine Person hat oder wie Pflege und Betreuung erlebt wird. Dabei stehen die Werte und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und deren Wohlbefinden im Mittelpunkt.
Somit gehen wir in diesem Beitrag, was den Transfer anbelangt, den umgekehrten Weg zu allen anderen Beiträgen, die bis dato in der Reihe “Persönlichkeitspsychologie für Pflegende” erschienen sind. Zunächst haben wir gefragt, inwieweit einzelne Erkenntnisse aus der Persönlichkeitspsychologie für die Pflege von Menschen mit Demenz relevant sein können. Heute wollen wir umgekehrt fragen, was der person-zentrierte Ansatz von Tom Kitwood, der vor allem in der Pflege zu Hause ist, mit Persönlichkeitspsychologie zu tun hat.
Die Personzentrierte Pflege nach Tom Kitwood
Als Tom Kitwood Mitte der 1980iger Jahre zusammen mit der Bradford Dementia Group seine Forschungsarbeiten weiterentwickelte, war dieser Ansatz völlig ungewöhnlich. Denn bis dato dominierte noch die pathologisch-medizinische Sicht auf Demenz. Es war dementsprechend zu dieser Zeit außergewöhlich, einen solchen Forschungsansatz wie Kitwood zu verfolgen.
Kitwood hat das ganzheitliche Modell der Demenz beschrieben. Auch wenn die neurologische Beeinträchtigung, die unmittelbar von der demenziell herbeigeführten Hirnschädigung verursacht wird, der primäre Grund für die auftretenden Probleme sein dürfte, so gibt es auf der individuellen Ebene doch zahlreiche andere und weitere Faktoren, die eine tiefergehende Auswirkung darauf haben, wie eine Person mit ihrer Demenz lebt, und wie sich die Person im Laufe einer Demenz verändert. Im Gegensatz zu diesem ganzheitlichen Modell dominierte damals aber noch der Fokus auf die neurologische Beeinträchtigung, die durch eine Demenz wie Alzheimer ausgelöst wird. Es wurde also nicht nach der Person und deren Persönlichkeit und Bedürfnisse gefragt, sondern der Abbau des Gehirns fokussiert.
Die zentrale Aussage von Kitwood lautet: Im Kern geht es bei der Demenz um das Personsein des Menschen. Dies gilt nicht nur für Menschen mit Demenz, sondern auch für die Betreuenden und Pflegenden, die Therapeuten und die Mediziner. Der demenziell veränderte Mensch versucht oft verzweifelt, sich als Person, als Subjekt zu erfahren. Angehörige können die andere Ebene des Mensch- und Personseins nicht mehr mit dem Bild im Einklang bringen, das sie vielleicht noch von der Person vor dem Eintritt in die Demenz hatten. Pflegende werden mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert, die bei ihnen zu Kopfschütteln und Ablehnung führen können, wenn Demente beispielsweise mit ihren Exkrementen spielen oder quasi wie aus dem Nichts heraus wild um sich herumschlagen. Für uns alle stellt sich die Frage: Was heißt es Mensch und Person zu sein, wenn der Geist uns verlässt?
Bezug zur Persönlichkeitspsychologie
Wenn jemand immer großen Wert darauf gelegt hat, sein Leben und was um ihn herum geschieht im Griff zu haben, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die betreffende Person sehr viel stärker mit den Folgen der Demenz kämpfen wird als jemand, der niemals Probleme damit hatte, Entscheidungen anderen zu überlassen. Wer extrovertiert ist, wird im Gemeinschaftsleben eines Pflegeheims wahrscheinlich besser zurechtkommen als ein eher introvertierter Mensch.
Hier gibt es auch Parallelen zu anderen Modellen aus der Persönlichkeitspsychologie. So ist beispielsweise das integrative Modell von McAdams und Pals (2006) vergleichbar mit dem ganzheitlichen Ansatz von Kitwood. Rein entwicklunspsychologisch interessieren sich McAdams und Pals so ähnlich wie Kitwood für unterschiedliche Dimensionen, die das Personsein und die Entwicklung einer Persönlichkeit charakterisieren. Dazu gehören solche Faktoren wie die menschliche Natur, Veranlagungen und Eigenschaften sowie Kultur. Ihr Modell kann daher so wie das Modell von Kitwood als ganzheitlicher Ansatz betrachtet werden, der nach den Einflussfaktoren fragt, die auf die Entwicklung einer Persönlichkeit einwirken; nur eben im umgekehrten Sinne, denn die Frage bei Kitwood lautet ja so: Wie kann eine Persönlichkeit im geistigen Abbau erhalten und gefördert werden?
Einflussfaktoren wie “Neurotizismus” und “Offenheit” kennen wir dagegen auch aus dem Big Five-Persönlichkeitsmodell. “Neurotizismus” spiegelt als Faktor Unterschiede in der Verarbeitung von negativen Emotionen. Personen mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus erleben häufiger Angst, Trauer und Unsicherheit. Zudem bleiben diese Empfindungen bei ihnen länger bestehen und werden leichter ausgelöst. Personen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind dagegen weniger unsicher und agieren ruhiger.
“Offenheit” bedeutet wiederum als Persönlichkeitsmerkmal weniger ängstlich, zuversichtlicher im Kontakt mit der Umwelt zu sein. Erkentnisse aus der Forschung belegen die Vermutung, dass sich “Offenheit” eher positiv auf den Verlauf einer Demenz auswirkt, während “Neurotizismus” eher einen negativen Einfluss darstellt – je nach Ausprägung. Das bedeutet: Wer zu Lebzeiten besonders stressanfällig und ängstlich ist, dessen Symptome können sich in der Demenz negativ verstärken, während “Offenheit” als Persönlichkeitsmerkmal eine wesentlich höhere “Leichtigkeit” im Krankheitsverlauf bedeuten kann. Im Kontakt mit anderen Menschen erfahre ich womöglich mehr Lebensqualität, auch wenn mein Geist abbaut.
Ausblick
Im nächsten Beitrag zum person-zentrierten Ansatz von Tom Kitwood werden wir uns genauer mit dem Beobachtungsinstrument Dementia Care Mapping (DCM) auseinandersetzen. Was lernen wir über die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz, wenn wir dieses Instrument in der Pflegepraxis einsetzen? Und was hat das mit Persönlichkeitspsychologie zu tun?
Weiterführende Literatur:
- Dementia Care Mapping (DCM) 8 Handbuch. Übersetzung: Christian Müller-Herg und Christine Riesner.
- Kitwood, T. (2005): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, hrsg. von Christian Müller-Hergl in der deutschsprachigen Ausgabe. Bern: Huber.
- Riesner, C. (Hrsg.) (2014): Dementia Care Mapping (DCM). Evaluation und Anwendung im deutschsprachigen Raum. Bern: Huber.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Randen Peterson / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.