In der Pflege von Menschen mit Demenz spielt die Umwelt eine große Rolle. Umgebung, Demenz und Versorgung wirken wechselseitig aufeinander ein. Dabei spielt die Umwelt auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung unserer Persönlichkeit. In dem integrativen Modell der Persönlichkeitspsychologie nach McAdams und Pals (2006) wird versucht, die verschiedenen Umwelteinflüsse in einem Konzept zu integrieren.
Die Mutter von Frau Hannah K. (eine fiktive Person; Anm. des Verfassers) ist vor kurzem an Alzheimer erkrankt. Neben der Diagnose, die Frau K. aktuell relativ stark emotional belastet, hat sie auch in ihrer Position als Leiterin eines Pflegeheims ziemlich viel Stress um die Ohren. Was Sie jedoch neulich ziemlich überraschte, war das Gespräch mit einer Mitarbeiterin. Die Mitarbeiterin wies Frau K. nämlich darauf hin, dass sie häufiger so gereizt reagieren würde, wenn wieder einmal viel Stress vorhanden wäre. Frau K. hat das gar nicht so bewusst registriert. Jetzt fragt sie sich nach dem Vieraugengespräch mit ihrer Mitarbeiterin, ob ihre Reaktionen auf Stress etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun haben?
Fragen wie “Was für eine Persönlichkeit bin ich?” oder “Ändert sich meine Persönlichkeit mit Demenz?” (im Falle der Mutter von Frau K.) lassen sich nicht auf einfache Art beantworten. Da es in der Persönlichkeitsforschung ganz unterschiedliche Erklärungsansätze für die Frage gibt, wie sich Persönlichkeit im wissenschaftlichen Sinne genauer fassen lässt, haben die beiden US-amerikanischen Forscher McAdams und Pals (2006) versucht, ein Rahmenmodell der Persönlichkeit mit dem Ziel aufzustellen, die wichtigsten empirischen Ergebnisse zum Verständnis des Menschen zu integrieren. Sie nennen fünf fundamentale Prinzipien zum Verständnis der Persönlichkeit, die Sie gleich noch genauer kennenlernen werden.
Dieses Modell kann auch für Frau K. in ihrer Frage erste wichtige Ansatzpunkte liefern: Wie hängen Persönlichkeitsbildung und Umwelteinflüsse zusammen, und was hat das beispielsweise mit der individuellen Reaktion auf Stress zu tun?
Persönlichkeitspsychologie für Pflegende
In der neuen Reihe “Persönlichkeitspsychologie für Pflegende” möchte ich mit dem Modell von McAdams und Pals starten, da dieses eine gute Basis für weitere Überlegungen zu diesem Thema darstellt. Wir können später immer wieder auf dieses Modell zurückkommen, um die einzelnen Erkenntnisse und Theorien aus der Persönlichkeitsforschung besser einzuordnen. Das bringt Ihnen bessere Orientierung!
Es mag Ihnen sicherlich auch einleuchten, dass wir im Alltag von ganz unterschiedlichen Menschen sprechen. Und es mag Ihnen sicherlich ebenso einleuchten, dass sich unsere Persönlichkeit im Laufe eines Lebens verändert, wobei gewisse Ausprägungen konstant bleiben, wenn diese erst einmal entwickelt sind (vom Embryonalstadium bis zum frühen Erwachsenenalter). Im Alltag bezeichnen wir diese Ausprägungen als “Charaktereigenschaften”. Eine stark introvertierte Persönlichkeit wird sich auch im Alter mit einer Demenz nicht grundsätzlich verändern: Gewisse Eigenschaften bleiben also konstant.
Obwohl sich unser Gehirn ein Leben lang verändert (Stichwort “Neuroplastizität” – mit diesem Begriff wird die aktive Anpassungsfähigkeit des Gehirns auf die Umwelt bezeichnet; Anm. des Verfassers), geht beispielsweise der Hirnforscher Gerhard Roth in seinem Buch “Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten” (Roth 2008) davon aus, dass in etwa nur 10 % unserer Persönlichkeit im Alter veränderbar ist.
Jetzt mögen Sie vielleicht an dieser Stelle einwenden: 10 % – das ist doch wirklich nur herzlich wenig! Aber überlegen Sie doch bitte einmal: Im Alltag kann dieser “kleine Teil” durchaus “Wunder” bewirken. Nehmen wir das Rauchen als Beispiel. Wer über 50 Jahre lang stark geraucht und auch andere Gewohnheiten auf das Rauchen eingestellt hat, etwa das Rauchen nach dem Mittagessen, das Rauchen in Gesellschaft oder das Rauchen nach einer Stresssituation, wird sein Leben mit relativ großer Wahrscheinlichkeit angenehmer empfinden, wenn diese Gewohnheit, die einen ganzen Rattenschwanz von anderen Gewohnheiten nach sich zieht, nach über 50 Jahren abgelegt wird. Denn sie gewinnen dadurch mehr Lebensqualität! Ob das auch Helmut Schmidt so empfindet, der angeblich jeden Tag viel Kaffee mit Milch und Zucker trinkt, Schnupftabak konsumiert und Kette raucht, ist dabei eine andere Frage
Aber wie sehen jetzt die Rahmenbedingungen für die Entwicklung unserer Persönlichkeit aus? Was sind wesentliche Einflussfaktoren? Legen beispielsweise die Gene ein Großteil unserer Persönlichkeit fest, oder ist diese Behauptung eher ein Mythos? Was spielt außer Genen eine Rolle? Wie sieht es etwa mit kulturellen Einflüssen und der eigenen Lebensgeschichte aus? Eine erste wichtige Orientierung zu derartigen Fragen liefert das Modell von McAdams und Pals.
Das integrative Modell der Persönlichkeitspsychologie
Ich fungiere jetzt einmal ein wenig als Übersetzer für Sie. Punkt 1: die menschliche Natur. Damit zielen die beiden US-amerikanischen Forscher auf sogenannte “Universalien” ab, also Eigenschaften, die prinzipiell alle Menschen in ihrer Artspezifität auszeichnet. Ein gutes Beispiel dafür ist die Fähigkeit zu lernen. Dies gilt übrigens auch für Menschen im hohen Alter und selbst Menschen mit Demenz sind bis zu einer gewissen Grenze noch lernfähig (je nach Demenzform und Stadium). Wenn Demenz-Kranke in ein Heim umsiedeln, schaffen sie es beispielsweise durchaus noch, dort nach einiger Zeit die Toilette aufzufinden oder Namen und Personen ihrer dortigen Betreuer miteinander zu verbinden (siehe dazu folgenden Link).
Punkt 2: Veranlagungen und Eigenschaften. Damit sind spezifische Eigenschaften adressiert, die eine Person in unterschiedlichen Situationen und über die Zeit hinweg immer wieder zum Ausdruck bringt. Im Falle der gereizten Verhaltensreaktionen von Frau K. auf Stress zu Beginn dieses Beitrags: Wir können in diesem Zusammenhang nur dann von “Veranlagungen und Eigenschaften” sprechen, wenn Frau K. in bestimmten Situationen immer wieder auf ähnliche Weise auf Stress reagieren würde. Die Frage würde hier lauten: Handelt es sich um ein bestimmtes Verhaltensmuster auf Stress oder nicht? Zu diesem Bereich gehört auch die Frage mit den Genen. Inwieweit wird unsere Persönlichkeit durch unsere Erbanlagen bestimmt?
Interessanterweise haben wir in der Forschung über einen recht langen Zeitraum angenommen, dass sich die Erbanlagen bei eineiigen (monozygote) Zwillingen stark ähneln, da sie sich aus einer einzigen Zygote (das bedeutet “befruchtete Eizelle”; Anm. des Verfassers) entwickelten. Das heißt, wenn ein eineiiger Zwilling eine bestimmte Störung hätte, so hätte der andere sie ebenfalls. Bemerkenswerterweise haben allerdings neueste Forschungen aus der “Epigenetik” gezeigt (in diesem Forschnungsbereich wird untersucht, wie identische Erbinformationen unterschiedliche Zellen aufgrund von Umwelteinflüssen erzeugen; Anm. des Verfassers), dass sich die Erbanlagen auch bei solchen Zwillingen aufgrund von unterschiedlichen Lebensweisen verändern können. Das bedeutet auf die Zwillinge bezogen: Je unterschiedlicher ihre Erfahrungen und Gewohnheiten – von der Ernährung und der sportlichen Aktivität über die Krankheitsgeschichte und den sozialen Status bis hin zum Tabak- und Alkoholkonsum –, desto größer die Abweichungen in ihrem Epigenom (siehe dazu auch folgenden Link).
Punkt 3: Charakteristische Adaptionen. Zu diesen Adaptionen (“Adaption” bedeutet “Anpassung an die Umwelt”; Anm. des Verfassers) zählen Motive, Ziele, Pläne, Werte, Einstellungen und Abwehrmechanismen. Kennzeichnend für “charakteristische Adaptionen” ist es, dass diese mit der Zeit modifiziert werden können, etwa durch umweltbezogene oder kulturelle Einflüsse oder durch Coaching und Psychotherapie. Im Falle von Frau K. würde das bedeuten: Ihre Reaktionen auf Stress sind nicht Teil von “Veranlagungen und Eigenschaften”. Sie kann diese etwa durch ein längeres kognitives Verhaltenstraining verändern und durch solche Verhaltensweisen ersetzen, die sie und ihr Umfeld weniger belasten.
Punkt 4: Integrative Lebensgeschichte. Dieses Prinzip bezieht sich auf die Identität und das Sinnerleben einer Person. Identität wird als narrative Identität verstanden, das heißt als eine Lebenserzählung, die eine Person immer wieder erzählt, um das eigene Leben in eine mehr oder weniger zusammenhängende Gestalt zu integrieren. Bei Menschen mit Demenz kann es aus diesem Grund besonders wichtig sein, sich als professionelle Pflegekraft ausgiebiger mit deren Vergangenheit zu befassen, um den Verfall des Kurzzeitgedächtnisses in der Sinnkonstruktion etwas entgegenzusetzen: hier wäre “Biographiearbeit” das Stichwort.
Mir fällt dabei aber auch die Geschichte von Viktor Frankl ein – den Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Frankl stellte als Neurologe und Psychiater die existenzielle Frage, wie in extremeren und bedrohlicheren Lebenssituationen Sinn konstruiert werden kann. Dabei ist Humor ein ganz wichtiges Element – übrigens auch im Zusammenhang mit Demenz!
Punkt 5: Kultur. Hierbei geht es letztendlich um die Frage, inwieweit einzelne Unterschiede von Persönlichkeiten auf den Einfluss von Kulturen zurückgeführt werden können. So drücken Personen kollektiver Kulturen ihre Geselligkeit anders aus als Personen aus individuellen Kulturen, und auch innerhalb dieser Kulturen bestehen Unterschiede im Verhalten. Ein Beispiel aus China: Handelt es sich um eine private Einladung, dann sollten nach wie vor besser keine Blumen als Gastgeschenk mitgebracht werden. Denn in China werden nur Tote mit weißen oder gelben Blumen geehrt. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie würden als unwissende Pflegekraft einer älteren Chinesin mit Demenz als “kleinere Aufmerksamkeit” gelbe Blumen mitbringen: keine so gute Idee!
Fazit
Das integrative Modell von McAdams und Pals (2006) eröffnet einen guten Einstieg in die Persönlichkeitsforschung, weil über dieses Modell einige wesentliche Grundprinzipien vermittelt werden. Wir werden uns in dieser neue Reihe noch mit weiteren wichtigen Modellen aus der Persönlichkeitspsychologie beschäftigen, etwa mit dem berühmten Big Five-Persönlichkeitsmodell. Außerdem lernen Sie verschiedene Testverfahren kennen, mit denen Sie etwa Ihre eigene Persönlichkeit genauer erfassen können. Und schließlich wird es auch noch um Verhaltensexperimente im Alltag gehen, die ziemlich aufschlussreich sein können. Seien Sie also gespannt, was in dieser neuen Reihe noch alles folgt! Ich freue mich auf Sie!
Weiterführende Literatur und Online-Quellen:
- Kraft, U. (2009): Das Leben macht den Unterschied. Beitrag zur Frage: Was prägt den Menschen mehr – Erbgut oder Umwelt? Abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=31893358.
- McAdams, D. P.; Pals, J. L. (2006): A new Big Five: Fundamental principles for an integrative science of personality. In: American Psychologist, 61, 1003-1015. Auch abrufbar unter folgender Online-Quelle: https://www.sesp.northwestern.edu/docs/publications/89090097490a0624369b9.pdf
- Roth, G. (2008): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart: Clett-Cotta.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Lukas Litz / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.
Super Artikel! Werde das definitiv mal ausprobieren, danke