Das unter der Leitung von Tom Kitwood entwickelte Dementia Care Mapping-Verfahren stellt ein Beobachtungsinstrument dar, um das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz genauer zu dokumentieren. In der Beobachtung können wir nicht nur Rückschlüsse auf die personale Qualität der Pflege ziehen, sondern auch etwas über unsere eigene Persönlichkeit lernen.
In der Beobachtung von Pflegenden und Demenzbetroffenen können wir auch etwas über uns selbst lernen: Denn über die Perspektive der Pflegenden werden wir in der Beobachtung unter anderem mit eigenen Wertmaßstäben und Vorurteilen konfrontiert.
Fallbeispiel aus der Praxis
Ein Mann, der an Demenz erkrankt ist, redet seit Wochen so gut wie gar nicht mehr mit den Pflegenden. “Herr Schmidt, warum wollen Sie sich nicht von uns waschen lassen?”, “Herr Schmidt, warum essen Sie eigentlich in letzter Zeit so wenig, wo wir uns doch immer so viel Mühe mit Ihnen machen?”. Erst durch die Anwendung des Beobachtungsinstruments Dementia Care Mapping (DCM) wird der beobachtenden Person klarer, wo das eigentliche Problem in der Kommunikation besteht.
Herr Schmidt lehnt die Hilfe der Pflegenden deshalb ab, weil er eigentlich weiter unabhängig sein will. Herr Schmidt durchläuft also einen inneren Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Aber da die Pflegenden die Abhängigkeit verstärkt haben, lösen sie bei Herrn Schmidt genau das Gegenteil von dem aus, was sie eigentlich bezwecken: die Steigerung des Wohlbefindens. Das Vorurteil lautet: “Die Situation ist klar, Herr Schmidt braucht einfach nur mehr Unterstützung.”
Das “Glück” der beobachtenden Person besteht in dieser Situation darin, dass sie über die Beobachtung mit ihrem eigenen “blinden Flecken” konfrontiert wird. Sie alle haben wahrscheinlich schon einmal eine ähnliche Situation erlebt: Dadurch, dass ich über eine andere Person mit meinen eigenen Werten, Vorstellungen und Vorurteilen konfrontiert werde, erkennen ich auch wesentlich eher, was an meiner eigenen Perspektive problematisch sein könnte. Wer das Autonomiebedürfnis einer anderen Person permanent unterläuft, kann in der Pflege echte Probleme bekommen.
Was ist Dementia Care Mapping (DCM)?
DCM bzw. das Abbilden von Dementenpflege ist ein an der Universität Bradford (England) von Tom Kitwood und Kathleen Bredin entwickeltes Verfahren zur Evaluation der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz. Die theoretische Basis bildet die personzentrierte Pflege.
Wir haben uns bis dato in dieser Reihe mit Persönlichkeitspsychologie auseinandergesetzt. Dabei haben wir Instrumente aus der Psychologie kennengelernt, die unser eigenes Reflexionsvermögen stärken. Auch DCM stellt ein Instrument dar, mit der sich das eigene Reflexionsvermögen schärfen lässt, wenn es um die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz geht. Denn durch dieses Beobachtungsverfahren werde ich über die Beobachtung von Menschen mit Demenz und jenen Menschen, die sie pflegen, auch indirekt mit meiner eigenen Perspektive konfrontiert: Würde ich beispielsweise Menschen mit Demenz bewusst anlügen, wenn die Zeit knapp ist? Wenn Herr Schmidt immer wieder mit seiner bereits verstorbenen Frau spricht? Und was hat das Lügen mit meinen eigenen Wertevorstellungen zu tun?
Bemerkenswertersweise kommt es bei der Anwendung von DCM zu einer Trennung zwischen Beobachtung und Bewertung und damit zu einer “Disziplinierung des Blickes”. Als Beobachter beobachte ich Pflegende und Demenzbetroffene. Und ich versuche dabei sämtliche Verhaltensweisen zu erfassen, die von einer dementen Person in Interaktion mit Betreuenden ausgehen. Dabei wird in der Beobachtung mit Zeitintervallen gearbeitet. Am Ende eines jeden fünfminütigen Zeitintervalls wird jeder beobachtenden Person eine Verhaltenskategorie mit einem bestimmten Wert zugewiesen: Stimmt die Qualität der Pflege oder nicht?
Ziel ist es, das Wohlbefinden von dementen Personen zunächst so detailliert wie möglich zu erfassen, um in einem zweiten Schritt die einzelnen Beobachtungen auszuwerten, zu analysieren und auch zu interpretieren.
Ein weiteres Fallbeispiel
Eine Pflegende kneift einen Betroffenen immer wieder in das Bein. Vorschnell fasse ich mein Urteil: Es handelt sich um einen infantilisierenden Übergriff in die Privatsphäre der anderen Person. Ist doch sonnenklar Wirklich? Beobachtung und Bewertung fallen in diesem Beispiel zusammen, während bei DCM zwischen Beobachtung und Bewertung getrennt wird. Das meinte ich mit “Disziplinierung des Blickes”. Sie beschreiben zunächst einfach, was sie sehen: “Pflegende kneift Mann ins Bein”. Und Sie bewerten nicht.
Dafür müssen Sie bestimmte Regeln und Verhaltenskategorien berücksichtigen. Desto häufiger sie dieses Verfahren anwenden, desto mehr üben Sie sich in der Trennung von Beobachtung und Bewertung. Ganz ehrlich: Wie oft bewerten wir andere Menschen im Alltag vorschnell? Und wie viel Klarheit würden wir in unserem Alltag stattdessen gewinnen, wenn wir häufiger zwischen Beobachtung und Bewertung trennen würden?
Insgesamt gibt es bei DCM 24 Verhaltenskategorien. Zu diesen Kategorien gehören solche Dinge wie “Selbstausdruck”, “Essen”, “Arbeit”, “Religion” und “Sex”. Und noch etwas vereint diese Methode neben Motiven und Grundbedürfnissen mit der Psychologie: Beim Abbilden wird dem, was die Menschen mit Demenz sagen und tun (oder nicht tun) sehr genaue Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist, was allgemein mit Verhalten gemeint ist. Aber genauso geht um es um psychologisches Fingerspitzengefühl in der späteren Analyse. Denn das Verhalten von Menschen mit Demenz kann nicht nur aufgrund der Dinge bewertet werden, die wir sehen.
Es geht auch um die Frage, welche Motive sich hinter dem Verhalten verbergen, welche inneren Beweggründe. Insofern wird bei DCM auch eine rein behavioristische Sichtweise abgelehnt. Behaviorismus ist eine Richtung der Psychologie, die auf wissenschaftlich beobachtbare, empirisch überprüfbare Daten des menschlichen und tierischen Verhaltens zielt, dabei aber die Innenperspektive der Beobachtung ausklammert. Gedanken, Werte, Wünsche. DCM überbrückt diese Klammer: Es geht um äußere und innere Aspekte und damit auch um Interpretation, so wie es auch in einem therapeutischen Verfahren neben der Beobachtung um Interpretation geht. Die andere Verbindung besteht zur Sozialpsychologie. Denn im schlimmsten Fall wird bei DCM auch beobachtet und analysiert, was in der Pflege unterlassen wird: Zuwendung.
Bei DCM sprechen wir bei fehlender Zuwendung und Missbrauch von “personalen Detraktionen”. Das ist böse Sozialpsychologie. Darunter fallen “Betrügen”, “Einschüchtern” und “Verbannen”. Im anderen “glücklicheren Fall” geht es um einen positiven Ereignisbericht. Das ist gute Sozialpsychologie. In solchen Berichten wird die Aufmerksamkeit auf die gute Pflegepraxis gelenkt: Wie können wir gute Pflegepraxis noch weiter verbessern? Das ist zugleich auch die Leitfrage und das Ideal von DCM. Weniger Pathologie, mehr Lebensqualität!
Fazit
DCM eignet sich als Beobachtungsmethode im besonderen Maße dazu, das relative Wohlbefinden von Menschen mit Demenz detailliert abzubilden, um Rückschlüsse auf die Qualität der Pflege zu ziehen. Dabei lernen wir als Beobachter auch etwas über unsere eigene Perspektive und Persönlichkeit. Wer mehr zu DCM erfahren will, sollte die Literaturangaben im Anschluss gesondert beachten. Eine Vertiefung in die Literatur lohnt sich für Pflegende definitiv!
Weiterführende Literatur:
- Dementia Care Mapping (DCM) 8 Handbuch. Übersetzung: Christian Müller-Hergl und Christine Riesner.
- Kitwood, T. (2005): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, hrsg. von Christian Müller-Hergl in der deutschsprachigen Ausgabe. Bern: Huber.
- Riesner, C. (Hrsg.) (2014): Dementia Care Mapping (DCM). Evaluation und Anwendung im deutschsprachigen Raum. Bern: Huber.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Hernan Pinera / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.