Persönlichkeitspsychologie: Lebensmotive nach Steven Reiss

Gerd freut sich immer, wenn er auf Herrn Rösner triff. Herr Rösner ist so unglaublich neugierig trotz seines hohen Alters. Pfleger Gerd ist dagegen wesentlich weniger neugierig, dafür aber sehr sportlich. Neulich hat sich Gerd gefragt, ob es irgendwie möglich ist, die wichtigsten Lebensmotive von Menschen herauszufiltern. Und da ist Gerd auf die 16 Lebensmotive von Steven Reiss gestoßen.

Auf die 16 Lebensmotive kam Prof. Dr. Steven Reiss von der Ohio State University in seiner mehrjährigen Forschungstätigkeit, in deren Verlauf mehrere 100.000 Aussagen ausgewertet wurden. Sie müssen sich das in etwa so vorstellen: Sie stehen als Persönlichkeitsforscher zunächst vor einem riesigen Berg an möglichen Werten und jetzt möchten Sie herausfinden, wie sich diese Werte auf eine überschaubare Zahl von grundlegenden Lebensmotiven reduzieren lassen.

Überlegen Sie sich bitte einmal folgendes: Jeder Mensch, den Sie pflegen, und der an Demenz erkrankt ist, hat ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Manche Menschen lieben Entspannung und Wohlbefinden, während andere Menschen Selbstlosigkeit und Sorgfalt schätzen. Und je länger Sie über diese Werte nachdenken, desto mehr Bedürfnisse werden Ihnen vermutlich einfallen: Abenteuer, Aktivität, Aussehen, Beharrlichkeit, Bekanntheit, Bewegung, Disziplin und Ehrlichkeit, um nur einige Werte zu nennen.

Nun hat sich Reiss über Jahre in seiner Forschung überlegt, wie die grundlegenden Lebensmotive aussehen könnten, welche die Oberkategorien zu den Werten darstellen. Und schließlich ist er nach mehreren Jahren Forschung auf 16 Lebensmotive gekommen. Dabei stellt Neugierde eines dieser Motive dar: Das, was der Pfleger Gerd so sehr an Herrn Rösner schätzt.

Die 16 Lebensmotive nach Steven Reiss

  1. Anerkennung: Streben nach sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit
  2. Beziehungen: Streben nach Freundschaft und Austausch
  3. Ehre: Streben nach Loyalität und Integrität
  4. Eros: Streben nach Erotik und Schönheit
  5. Essen: Streben nach Nahrung
  6. Familie: Streben nach Familienleben und eigenen Kindern
  7. Idealismus: Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Fairness
  8. Körperliche Aktivität: Streben nach Fitness und Bewegung
  9. Macht: Streben nach Erfolg, Leistung, Führung und Einfluss
  10. Neugier: Streben nach Wissen, Wahrheit, Erkenntnis
  11. Ordnung: Streben nach Stabilität, Klarheit und guter Organisation
  12. Rache: Streben nach Konkurrenz, Kampf, Aggressivität und Vergeltung
  13. Ruhe: Streben nach Entspannung und emotionaler Sicherheit
  14. Sparen: Streben nach Besitz und Anhäufung materieller Güter
  15. Status: Streben nach Prestige, nach Reichtum, Titeln und öffentlicher Aufmerksamkeit
  16. Unabhängigkeit: Streben nach Freiheit und Selbstgenügsamkeit

Reflexion

Ich selbst führe regelmäßig Tagebuch. Dabei erfüllt mein Tagebuch mehrere Funktionen. Ich schreibe einerseits auf, was ich so denke und fühle, andererseits geht es auch um Ziele, Wünsche und Träume, und die Frage, wie diese Bedürfnisse praktisch umgesetzt werden können: Wie ich also vom Denken zum Machen komme ;-) Bei den 16 Lebensmotiven von Steven Reiss fällt mir zunächst auf, dass sich die persönliche Bedeutung dieser Motive im Laufe eines Lebens auch verändern kann. Als Beispiel fällt mir dazu Idealismus ein. Mir liegt soziale Gerechtigkeit zwar definitiv am Herzen, allerdings spielt Idealismus nicht mehr so eine ausgeprägte Rolle in meinem Leben, wie das vielleicht früher einmal der Fall gewesen ist. Deshalb verbinden wir diesen Wert ja auch häufig mit der Jugend, während unsere Weltsicht mit dem Alter tendenziös “abgeklärter” wird.

Manche Werte hängen auch miteinander zusammen und zuweilen ist einem das erst einmal gar nicht so klar. So gehören beispielsweise unter Umständen Sparen und Unabhängigkeit zusammen. Denn wer wirklich unabhängig sein will, sollte auch dafür sorgen, dass die Unabhängigkeit ebenso in finanzieller Hinsicht greift. Es sei denn, dass Sie wirklich sehr bescheiden sind. Überhaupt finde ich viele Verbindungen in den Motiven, wenn ich anfange darüber ernsthaft nachzudenken, welche Motive für mich persönlich von Bedeutung sind und welche nicht. Ich kann Ihnen deshalb nur empfehlen, sich einmal ausreichend Zeit für diese Art von Reflexion zu nehmen.

Wenn Sie selber nicht ganz sicher sind, welche Motive für sie wirklich wichtig sind, können Sie auch eine andere Person bitten, mit den Begriffen Paare zu bilden, die diese Person Ihnen vorlegt. Sie können davon jeweils jene Begriffe auswählen, die Sie mehr ansprechen. Wichtig ist dabei vor allem, dass sie nicht lange nachdenken, sondern sich möglichst spontan für einen Begriff entscheiden: Neugier und Ordnung, Status und Unabhängigkeit und so weiter. Welche Lebensmotive sind für Sie persönlich besonders wichtig?

Außerdem kann es auch interessant sein, persönliche Widersprüche aufzudecken: Anerkennung und Beziehungen spielen für mich vielleicht als Motive eine wichtige Rolle, gleichzeitig strebe ich stark nach Ruhe und Unabhängigkeit. Was ich damit sagen will: Zuweilen vereinen wir auch Bedürfnisse in uns, die einander widerstreben oder gar einen Konflikt verdeutlichen – Ich tausche mich gerne mit anderen Menschen aus, merke jedoch sehr schnell, dass ich wieder meine Ruhe haben will. Das wäre ein Beispiel für einen möglichen Widerspruch. Aber so tickt eben häufig unsere Natur ;-)

Online-Test 

Um ein persönliches Profil, ein sogenanntes Reiss-Profile zu erstellen, kann im Internet ein kostenpflichtiger Test gemacht  werden. Für den Test benötigen Sie in etwa 15 bis 20 Minuten Zeit. Genauere Informationen zu diesem Test finden Sie hier: https://www.reissprofile.eu/websites/3/Dokument_zur_Wissenschaftlichkeit_ Fassung_08_2014.pdf. Wobei der Test in der Basisversion 300,- Euro kostet. Dafür erhalten Sie ein Motivationsprofil als PDF und ein persönliches oder telefonisches Rückmeldegespräch, welches 90 Minuten dauert. Hier finden Sie mehr Informationen zu diesem Angebot: http://pilates.angela-sauer.com/Reiss_Profile_WAS_IST_DAS.pdf. Wem das zu teuer ist: Es gibt auch ein Buch von Steven Reiss, in dem der Test enthalten ist. In der deutschen Übersetzung trägt das Buch folgenden Titel: “Wer bin ich und was will ich wirklich?”.

Der Test lässt sich übrigens auch gut für Führungskräfte im Gesundheits- und Pflegebereich einsetzen, um beispielsweise den Ursachen für mögliche Konflikte mit den eigenen Mitarbeitern besser auf die Spur zu gelangen. Liegt der Konflikt mit einem meiner Mitarbeiter vielleicht darin begründet, dass wir völlig unterschiedliche “Antreiber” haben? Das wäre so eine Frage für eine derartige Test-Anwendung.

Welche Frage auch noch für Sie von Bedeutung sein könnte: Bin ich vielleicht häufiger in meinem Beruf unzufriedener, weil ich meine wichtigsten Motivatoren nicht ausreichend ausüben kann? Ein Beispiel: Sie sind neugierig, offen und helfen gerne Menschen, auf der anderen Seite würden Sie aber gerne auch mehr Macht und Einfluss ausüben.

Fazit

Das Reiss-Profile bildet eine gute Ergänzung zum Big Five-Persönlichkeitstest, da es bei diesem Test um andere Schwerpunkte geht. Während bei dem Big Five-Persönlichkeitstest fünf Dimensionen unserer Persönlichkeit näher erforscht werden, nämlich 1. Verträglichkeit, 2. Extraversion, 3. Gewissenhaftigkeit, 4. Neurotizismus und 5. Offenheit, lernen Sie beim Reiss-Profile Ihre persönlichen Lebensmotive besser kennen – Motive wie “Anerkennung”, “Macht” oder “Unabhängigkeit”. Auch lässt sich das Reiss-Profile für ganz unterschiedliche Anwendungszwecke einsetzen: Angewandt werden kann es nicht nur in der Selbstreflexion und in der genaueren Analyse von Lebensmotiven, die anderen Menschen in ihrem Umfeld wichtig sind, etwa Menschen mit Demenz, die Sie pflegen, sondern ebenso in der Suche nach geeigneten Mitarbeitern für eine Organisation, in der Kindererziehung, in der Paarberatung oder auch in der Ursachenerkennung von Problemen und Krankheiten.

Auf der anderen Seite sehen Kritiker die Auswahl der Lebensmotive eher zufällig, die Durchführung lasse keine gültigen Aussagen zu, da das Ergebnis auf einer reinen Selbsteinschätzung beruht und viele zufällige Faktoren darauf einwirken können. Aber diese Kritik trifft auch für andere Persönlichkeitstests zu, da es unter wissenschaftlichen Kriterien betrachtet ein echtes Problem darstellt, die menschliche Persönlichkeit nach “objektiven Maßstäben” zu bewerten. Dafür sind menschliche Werte und Motive viel zu stark subjektiv geprägt, um solchen Maßstäben zu nahezu 100 % gerecht zu werden.

Insofern kann ich das Reiss-Profile als Ergänzung zu anderen Persönlichkeitstests wie den Big Five-Test wirklich empfehlen, wenn Sie mehr über sich und andere Personen herausfinden wollen!

Weiterführende Literatur und Online-Quellen:

Quellenangabe zum Titelfoto:

Foto: Thyago-SORGIFX / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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