Warum Frau Meier nicht mehr spricht: Fallbesprechung mit offenem Ende_Teil 2

Frau Meier ist an Demenz erkrankt und in einem Pflegeheim untergebracht. Seit Wochen redet sie so gut wie gar nicht mehr. Anhand ihrer Geschichte geht es in diesem Beitrag um eine Fallbesprechung. Wie könnte die Besprechung zu ihrem Fall verlaufen? Worauf kommt es an? Und welche Analyse-Instrumente sind gefragt?

Im ersten Beitrag zu dem Fall von Frau Meier bin ich zunächst ganz grundsätzlich auf einige Probleme eingegangen, die bei einer Fallbesprechung in der Pflege auftauchen können. Eine zu analytische Denkweise kann beispielsweise dazu führen, dass man den eigentlichen Problemen einer bestimmten Person mit einer bestimmten auffälligen Verhaltensweise (etwa Aggression, Wahn und Apathie) erst gar nicht auf die Spur gelangt.

Die auf Ziele und Zwecke hin ausgerichtete Fallbesprechung (Klärung, Analyse, argumentatives Entwickeln einer Entscheidungsfindung) kann zu Entscheidungen führen, die nicht unbedingt zur Lösung eines Problems beitragen. Nehmen wir ein Beispiel: Möglicherweise haben wir im Vorfeld zu der Fallbesprechung von Frau Meier unter Verwendung eines Analyse-Instruments wie dem “Neuropsychiatrischen Inventar” (NPI) herausgefunden, dass Frau Meier unter Essstörungen leidet und zudem stark apathisch wirkt. Jetzt schließen wir womöglich aus diesem Befund, dass Frau Meier deshalb nicht mehr reden will, weil sie unter einer Depression leidet.

Es kann aber auch sein, dass Frau Meier sich von den Pflegenden bevormundet fühlt, die ihr ständig Hilfe anbieten, auch wenn sie zuweilen überhaupt keine Hilfe benötigt (oder annimmt, keine Hilfe zu benötigen). Schon an diesem Beispiel merken wir, wie komplex mögliche Ursachen für eine bestimmte auffällige Verhaltensweise ausfallen können. Dementsprechend sollten wir bei Fallbesprechungen die Augen und Ohren offen halten und mit der Grundhaltung der Ziellosigkeit vorgehen.

Genauere Analysen von möglichen Ursachen für einzelne herausfordernde Verhaltensweisen – etwa unter der Berücksichtigung von Inventaren wie dem NPI , bilden eine wichtige Grundlage innerhalb von Fallbesprechungen. Man kann mit solchen Instrumenten auf systematische Weise mögliche Ursachen für ein verzwickteres Verhaltensproblem ausschließen, jedoch nicht alleine durch solche Instrumente einen Fall lösen. Denn die Auflösung von Problemen ist häufig nicht so zielgerichtet, wie man möglicherweise im analytischen Sinne annimmt: Wenn Frau Meier das Verhalten A in Situation B zeigt, muss es sich um Problem C handeln. Das ist vergleichbar mit Problemen, die in zwischenmenschlicher Kommunikation auftauchen.

Das Quadrat der Nachricht von Schulz von Thun

Die Zeichnung zu Beginn dieses Beitrags verdeutlicht die irrtümliche Annahme, dass Kommunikation immer zielgerichtet und mehr oder weniger eindeutig ausfallen muss. Wir können weder wirklich wissen, was sich im Kopf der anderen Person, mit der wir kommunizieren und die wir pflegen, abspielt, noch müssen die verschiedenen Ebenen, die an der Kommunikation beteiligt sind, kongruent zueinander verlaufen. So hat der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun ein Kommunikationsmodell entwickelt – das “Quadrat der Nachricht” –, in dem insgesamt vier verschiedene Ebenen der Kommunikation unterschieden werden, und die in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht selten im Widerspruch zueinander liegen können:

  1. Mit dem Sach-Ohr versuchen wir, den sachlichen Informationsgehalt einer Nachricht zu entschlüsseln.
  2. Mit dem Selbstkundgabe-Ohr sind wir eher diagnostisch unterwegs: Was ist mit Frau Meier los? Welche Gefühle und Motive sind mit ihren Äußerungen auf der non-verbalen Ebene verbunden, da sie so gut wie gar nicht mehr spricht?
  3. Mit dem Beziehungs-Ohr nehmen sowohl der demenzkranke Mensch als auch jene Personen, die diesen Menschen pflegen, die Botschaft auf der Beziehungsbene der Kommunikation auf. Das Selbstwertgefühl (hier das von Frau Meier) resultiert wesentlich aus den erhaltenen Beziehungsbotschaften. Auf der anderen Seite ist dabei sicherlich auch ganz entscheidend, von welchen Persönlichkeiten wir überhaupt sprechen. Denn Beziehung äußert sich ebenso in Persönlichkeitseigenschaften wie beispielsweise dem Verlangen nach Sicherheit, Vertrauen und Struktur.
  4. Mit dem Appell-Ohr geht es schließlich um Aufforderungen – und die gibt es nicht nur verbal. Wer in der Pflege einem demenzkranken Menschen den hochgehobenen Teller zeigt, fordert ebenso zum Essen auf, jedoch auf der visuellen Ebene!

Fallbesprechungen: Klärungsphase und Erweiterung der Perspektive

Wir hatten bereits im letzten Beitrag aufgezeigt, wie man sich auf systematische Weise auf einen Fall vorbereiten kann. Die Fallexploration (Klärungsphase) kann nach unterschiedlichen Logiken entwickelt werden. Und die Fallexploration profitiert sehr davon, wenn sie zuvor systematisch vorbereitet wurde, solange man dabei nicht vergisst, neben der diagnostischen und analytischen Blickweise auch ebenso solche Aspekte wie kommunikative Offenheit, Humor und Empathie mit einzubringen ;-)

Folgende Punkte sind in der Klärungsphase unter anderem von Relevanz:

  • Biographie: familiärer Hintergrund
  • Kognitiver Status: Welche kognitiven Beeiträchtigungen bestehen?
  • Gesundheitsstatus: Wie sieht es etwa mit Ernährung und Bewegung aus?
  • Psychiatrischer Status: Existieren Störungen wie Halluzinationen, Zwänge, Phobien und Ängste?
  • Persönlichkeit: Wie sieht die Persönlichkeitsstruktur aus? Haben wir es beispielsweise eher mit einer offenen und extrovertierten Person zu tun, oder handelt es sich eher um eine introvertierte Person?
  • Umwelt: Wie sieht die Tagesgestaltung aus?
  • Pflegesituation: Wird Hilfe zugelassen oder eher abgelehnt?

Wichtig ist auch, dass möglichst mehrere Personen mit unterschiedlichen Expertisen und Blickwinkeln an einer Fallbesprechung teilnehmen. Neben einem Fallbringer und einem Moderator wäre es wünschenswert, dass auch professionell Pflegende, Mediziner, Psychologen und/oder Psychiater an einer Fallbesprechung teilnehmen, um nicht zu schnell zu “Lösungsansätzen” vorzudringen, die das eigentliche Problem vielleicht gar nicht aufdecken. Wünschenswert wäre außerdem bei einer Fallbesprechung, dass bewusst ebenso solche Personen hinzugezogen werden, die eine Außenperspektive einnehmen.

So wissen wir beispielswiese aus der systemischen Team- und Organisationsberatung, dass die Ursachen für interne Konflikte innerhalb einer Organisation häufig gar nicht gesehen werden, weil Personen zu stark in interne Abläufe “verstrickt” sind. Auch kann häufig die Distanz zu einem Problem fehlen, wenn man sich ständig mit Personen umgibt,  welche die eigene Sichtweise bestätigen.

Daher macht es häufig Sinn, Personen von außen an Fallbesprechungen zu beteiligen, um die Kultur einer Organisation bewusst von außen zu hinterfragen. Wie verhalten sich etwa die Pflegenden gegenüber Frau Meier im Pflegeheim xy? Können die Pflegenden überhaupt noch selber “von außen” sehen, wo die Probleme in ihrem Verhalten gegenüber Frau Meier bestehen?

Bei einem “Teufelskreis” ist das so gut wie gar nicht möglich. Wir haben es hier nämlich mit einem geschlossenen Kreislauf zu tun, der nur von außen durchbrochen werden kann: Ein “Teufelskreis” zwischen Pflegenden und Betroffenen kann entstehen, wenn eine einzelne Pflegeperson Betroffenen wie Frau Meier die Hilfsbedürftigkeit permanent spürbar werden lässt. So kann es auch sein, dass der Mensch mit Demenz Hilfe ablehnt, weil er ein anderes Selbstbild von sich hat. In diesem Zusammenhang kann etwa Frau Meier annehmen, dass sie an sich noch sehr selbstständig agieren kann, obwohl das gar nicht nicht zutreffen muss, da bei ihr etwa eine falsche Selbsteinschätzung vorliegt.

Bei Pflegenden kann die permanente Ablehnung von Hilfe wiederum dazu führen, dass Gefühle von Hilflosigkeit, Versagen und Sorge um den Demenzkranken immer weiter zunehmen. Es entsteht somit ein negativer Rückkoppelungskreis, der von Pflegenden nur schwer in seiner inneren Logik erfasst werden kann, und den von Thun daher ganz treffend als “Teufelskreis” bezeichnet (siehe dazu auch die am Ende dieses Beitrags angeführte Literatur).

Fallbesprechungen: Möglicher Verlauf bis zum “Ende”

Ein Ablaufschema für eine mögliche Fallbesprechung wie die zu dem Fall von Frau Meier könnte wie folgt aussehen (siehe dazu auch beigefügte Quellen im Literaturanhang): Zunächst werden die Rollen bei der Fallbesprechung festgelegt. Insgesamt kann eine Fallbesprechung aus drei unterschiedlichen Personen/Personenkreise bestehen. Zu nennen wären hier ein Moderator, ein Fallbringer und ein Fallbesprechungsteam.

Die Fallbesprechung könnte damit beginnen, dass der Moderator den ersten Teil des gemeinsam zu führenden Gesprächs anmoderiert. Der Moderator fragt den Fallbringer, um was für eine Art von Fall es sich handelt, und schreibt das Anliegen/das Ziel für die Fallbesprechung auf ein Flipchart.

Fallbesprechungsteam und Moderator können Verständnisfragen zum Anliegen der Fallbringer stellen. Während dieser Gesprächsphase sollte der Moderator im idealtypischen Sinne darauf achten, dass es ausschließlich Verständnisfragen sind, die gestellt werden, also keine Interpretationen oder Tipps zum Fall, was zur Verzerrung beitragen könnte.

Wenn der Fallbringer mehrere Ziele/Anliegen formuliert hat, kann der Moderator in die Runde fragen, was zuerst behandelt werden soll.

Das Fallbesprechungsteam spricht nun über das von dem Fallbringer beauftragte Anliegen, während der Fallbringer ein wenig zurückrückt und sich nicht weiter in die Fallbesprechung einmischt. Im Falle von Frau Meier könnte das Fallbesprechungsteam beispielsweise aus einer Pflegeperson, einem Mediziner und einem Psychologen/Psychiater bestehen. Dabei achtet der Moderator darauf, dass der Fallbringer nur zuhört, Kommentare blockt er dagegen ab, mit dem Hinweis, dass jetzt erst einmal Zeit ist um sich anzuhören, was das Team diskutiert und zu sagen hat.

Am Ende der Fallbesprechung, die mehrere Runden andauern kann (im Sinne von zirkulären Schleifen), wird schließlich in die Runde gefragt: “Was war hilfreich?”. Ergänzend kann man auch mit einer Skala arbeiten. In diesem Falle würde der Moderator am Ende des Gesprächs etwa folgende Frage stellen: “Auf einer Skala von 1 bis 10, wie nützlich war die Fallbesprechung für Sie”?

Wichtig ist zudem die Dokumentation der Ergebnisse nach der Fallbesprechung und die weiteren Ziele, die mit der Besprechung verbunden sind. Wie soll beispielsweise die Veränderung des Verhaltens einer Person durch gezielte Interventionen in einem bestimmten Zeitraum gemessen werden?

Die Verstehenshypothese

Bei der Entwicklung von Verstehenshypothesen ist entscheidend, zwischen der eigenen Perspektive und derjenigen des Klienten zu unterscheiden. Fragen, die mit der eigenen Perspektive zusammenhängen, wären etwa: Was bedeutet dieses Problem für mich? Für Pflegende: Warum ist es ein Problem, dass Frau Meier nur noch sehr selten spricht? Der Perspektivenwechsel wäre dann: Was bedeutet das für Frau Meier? Hat sie etwa ein Problem mit meiner Verhaltensweise?

Bei der Entwicklung von Verstehenshypothesen innerhalb einer Fallbesprechung ist es wichtig, dass die Leitung unterschiedliche subjektive Deutungen sichtbar macht und den Perspektivenwechsel aktiv anregt, etwa: sich hineinversetzen in den Klienten, Regeln, Erwartungen und Annahmen des Versorgungssystems thematisieren, verschiedene Vorstellungsbilder des Klienten im Rahmen der Pflege thematisieren. Oder bei überwertiger biographischer Orientierung das Hier und Jetzt hervorheben (Demente haben eine Gegenwart).

Analyse-Instrumente: Ein Überblick als Hilfestellung

Es existieren verschiedene Analyse-Instrumente, Inventare und Fragebögen, mit deren Hilfe sich mögliche Ursachen für einzelne problematische Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz herausfinden lassen. Zumindest wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, der Ursache/den Ursachen für Verhaltensprobleme eher auf die Schliche zu kommen. Ich möchte außerdem noch ergänzen, bevor ich auf einzelne Analyse-Instrumente zu sprechen komme, dass nicht jedes herausforderndes Verhalten immer komplexe Ursachen haben muss. Denkbar ist beispielsweise als relativ einfache Ursache für Schlafprobleme, dass ein falsches Medikament verabreicht wurde, dessen Nebenwirkungen dazu geführt haben, dass Frau Meier des Nachts nicht mehr schlafen kann und infolgedessen umherwandert.

Bei den Analyse-Instrumenten, die ich hier nun kurz vorstellen möchte, handelt es sich zumeist um Checklisten und Fragebögen, die dabei helfen, mögliche Ursachen für ein bestehendes Verhaltensproblem systematisch auszuschließen, oder eben überhaupt erst bestimmten Zusammenhängen auf die Spur zu gelangen, die mit einzelnen herausfordernden Verhaltensweisen wie unter anderem Aggression und Apathie zu tun haben können.

  • Mit der Cohen-Mansfield Skala wird gemessen, wie häufig einzelne Verhaltensmerkmale auftreten. Insgesamt sind in der Skala 25 mögliche Verhaltensmerkmale wie “Schlagen”, “Anhaltendes Schreien” und “Ständiges Suchen nach Zuwendung” aufgeführt. Hier der Link zu diesem Instrument: http://www.kleeblatt-ggmbh.de/fileadmin/kleeblatt/user_upload/PDF/Cohen-Mansfield-Skala.pdf 
  • ADL bedeutet “Aktivitäten des täglichen Lebens”. Bei diesem Instrument geht es darum, herauszufinden, inwieweit einzelne Aktivitäten des täglichen Lebens wie unter anderem “Essen”, “Baden” und “Treppensteigen” noch selbstständig ausgeführt werden können (oder eben nicht). Hier der Link zu diesem Instrument: http://www.rsf.uni-greifswald.de/fileadmin/mediapool/lehrstuehle/flessa/GM2_ADL.pdf
  • NPI bedeutet “Neuropsychiatrisches Inventar”. Mit diesem Instument kann man bei einem bestimmten Patienten/Klienten genauer analysieren, ob “Wahnvorstellungen”, “Halluzinationen” oder “Depression” vorliegen. So werden etwa einzelne Fragen zu “Depression” mit “Ja” oder “Nein” beantwortet. Oder “Häufigkeit”, “Schwere” und “Belastung” abgefragt. Wie häufig und wie lange weint Frau Meier pro Woche? Hier der Link zu diesem Instrument: http://www.gesundheitundalter.ch/Portals/3/media/geriatrische/PDF/NPI.pdf

Fazit

Der Vorteil von Fallbesprechungen besteht für mich darin, ein wesentlich ausgewogeneres Verständnis für einzelne herausfordernde Verhaltensweisen entwickeln zu können, insbesondere dann, wenn bisherige Lösungsversuche gescheitert sind und sich eine einzelne Verhaltensweise als weitaus problematischer darstellt, als zunächst angenommen wurde. Ein weiterer großer Vorteil besteht zudem darin, die eigene Perspektive zu erweitern und vielleicht sogar auf Problemlösungsansätze zu kommen, die dem eigenen professionellen Verständnis nach zu urteilen, womöglich zunächst eher abwegig erschienen.

Auf der anderen Seite muss allerdings fairerweise ebenso zugeben werden, dass eine Fallbesprechung in der Vorbereitung und im Nachgang mit viel Aufwand verbunden sein kann. Dieser Aufwand kann beileibe nicht immer betrieben werden, wenn Ressourcen knapp sind, etwa in Pflegeheimen oder stationären Einrichtungen. Wobei das Zeitargument dabei nicht unbedingt immer stichhaltig sein muss: Eine gründlichere Besprechung von wirklich problematischen Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz kann nämlich durchaus auch dazu beitragen, Zeit zu sparen. Strategie vor Affekt, wenn Sie so wollen, oder anders formuliert: lieber gründlicher Diagnose betreiben und später weniger Ärger haben ;-) Dafür können Fallbesprechungen sehr nützlich sein!

Weiterführende Literatur:

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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