“Meine Hilflosigkeit ließ mich mit dem Schreiben anfangen”

Durch das Schreiben gewinnen wir Abstand zu unserem eigenen Erleben. Die Sozialarbeiterin und Kunsttherapeutin Katja Hörter aus Schwerte pflegte einige Jahre ihre demenzkranke Großmutter. Die Geschehnisse des letzten Lebensjahres hielt sie in der Form eines Tagebuchs fest. Wir haben dieses Tagebuch beinahe ein Jahr lang täglich auf diesem Blog veröffentlicht. Aus diesem Anlass haben wir für Sie einen Querschnitt zusammengestellt.

Was treibt Menschen dazu an, ein Tagebuch zu führen? Ein wichtiges Motiv ist der Abstand, den man gewinnen kann, wenn man noch einmal aus der Retrospektive heraus über schwierige Passagen des Lebens schreibt. Auch bei Katja Hörter spielt dieses Motiv eine große Rolle. Und auch sie befand sich in einer schwierigen Lebenssituation.

Abstand gewinnen

Hörter hielt das letzte Lebensjahr ihrer demenzkranken Großmutter in der Form eines Tagebuchs fest. Der erste Eintrag ihres Tagebuchs ist datiert auf den 28. Juni 2009, der letzte Eintrag auf den 18. Mai 2010. Auf die Frage hin, warum es für sie so wichtig war, ein solches Tagebuch zu schreiben, antwortete sie mit entwaffnender Ehrlichkeit: “Meine Hilflosigkeit ließ mich mit dem Schreiben anfangen. Denn ich habe schon früher die Erfahrung gemacht, dass man durch das Schreiben einen Abstand zum eigenen Erleben findet.”

Stellen Sie sich vor, dass Ihr Vater, Ihre Mutter oder Ihre Großmutter an Demenz erkrankt wäre. Und stellen Sie sich bitte außerdem vor, wie sich das wohl anfühlen würde, einen geliebten Menschen, der an Demenz erkrankt ist, bis zu seinem Tode beinahe rund um die Uhr zu begleiten. Katja Hörter hat das getan.

Ich stelle mir ein sehr intensives Jahr vor, in dem sich Momente des Glücks und der Freude mit Verzweiflung und Resignation abwechseln. Ein solches Jahr erinnert auf der Gefühlsebene wohl eher an eine Achterbahnfahrt als an einen leise dahinplätschernden Fluss. Was mich das Tagebuch von Hörter jedoch lehrt, ist die Tatsache, dass es auch einen Alltag in solchen turbulenten Zeiten gibt. All die kleinen Rituale und Routinen des Alltags, die einem über den Tag helfen. Davon gibt es eine Menge in dem Tagebuch von Hörter.

Nach dem Tode

Nachdem die Großmutter gestorben war, arbeitete Hörter in einem Pflegeheim. Auch hier hatte sie mit Menschen zu tun, die an Demenz erkrankt sind. Entscheidend war für Hörter, dass sie mit der Zeit feststellte, dass das Verhalten ihrer Großmutter gar nicht so eigenartig gewesen war, wie sie zuvor zuweilen gedacht hatte. Wir wissen von dementen Menschen, dass sich ihre Verhaltensweisen im Laufe einer Demenz stark verändern. Das sorgt in der Pflege für viele Überraschungen, da man Menschen, die man umsorgt, noch einmal auf eine zum Teil unbekannte Weise erlebt.

Ich erinnere mich beispielweise an eine recht befremdliche Passage aus dem Buch “Der alte König in seinem Exil” von Arno Geiger, in dem Geiger von seinem Vater erzählt, dem die Erinnerungen langsam abhanden kommen. Als die Demenz seines Vaters schon recht weit vorangeschritten ist, war der Vater nicht mehr dazu in der Lage, den Fernseher als andere Realität zu erkennen. Das gipfelte dann zu Weihnachten in einer Situation, in welcher der Vater während der Nachrichten von der Couch aufstand, um den Nachrichtensprecher die Schale mit den Weihnachtskeksen anzubieten.

Die Situation im Pflegeheim ist noch einmal eine etwas andere. Der Abstand zu den Menschen ist einfach größer, wenn man dort im professionellen Sinne pflegt. Was jedoch nicht bedeutet, dass die Besonderheiten und Intensitäten, die mit der Pflege von Menschen mit Demenz verbunden sind, nicht gleichsam wahrnehmbar wären. Hörter formuliert das so: “Ich habe aus der Distanz einer Sozialarbeiterin unheimlich schöne, innige, dramatische und auch wirklich lustige Erlebnisse mit einigen Bewohnern gehabt.”

Das letzte Jahr im Rückblick

28. Juni 2009

Gegen 3 Uhr dringt ein leises Rufen in mein Bewusstsein. Ich gehe hin. Oma sitzt im Dunkeln auf der Bettkante, den Schlüpfer herunter gezogen. Sie will aufs Klo und findet es nicht.

Ich mache ihr zunächst die Hörgeräte ins Ohr und setze sie danach auf den Toilettenstuhl. Das Bettlaken ist da, wo sie saß, voller Kot. Ich ziehe es ab und will es auswaschen. Die Wollunterlage ist auch beschmutzt und die Knierolle ebenfalls. Am besten gleich alles in die Waschmaschine.

Eine neues Laken aufs Bett. Und nun die Oma. Sie sitzt auf dem Stuhl wie ein Häufchen Elend. Ich nehme zwei nasse Waschlappen und ein Handtuch. Das Nachthemd muss noch gewechselt werden, und ein neuer Schlüpfer angezogen. Ich helfe ihr ins Bett und trete barfuß in einen Rest, der sich auf dem Teppich unsichtbar macht. Oma liegt wieder. Nun muss ich den Toilettenstuhl abwischen und den Topf reinigen. Und den Teppich absuchen. Oma redet nicht viel, sie ist geschockt. Ich wünsche ihr noch eine gute Nacht, nehme die Hörgeräte raus. Licht aus und raus.

7.15 Uhr werde ich von einem lauten “Rums” wach, Oma ruft mich. Sie ist wieder im Dunkeln beim Aufstehen umgekippt. Zum Glück rückwärts aufs Bett. Hat sie sich den Kopf gestoßen? Sie zittert total, will sich danach wieder hinlegen. 8.30 Uhr. Sie ist verwandelt, richtig wach und versteht mich. Wir machen uns hübsch für den Tag, frühstücken und lesen Zeitung. Danach sitzt sie im Sessel und döst. Abends spielen wir Mensch-ärger-dich-nicht, sie gewinnt wie immer. Mühle kann sie auch noch, strengt sie aber zu sehr an. Fernsehgucken mag sie nicht. Vieles ist auch einfach zu schnell.

21.45 Uhr: Oma geht schlafen, ich assistiere.

1. Juli 2009

Der ganze Tag verlief geradezu bilderbuchmäßig schön. Abends sitze ich noch bei ihr. Plötzlich fragt sie: “Jetzt erklär mir mal, wie das hier so alles geht.” Ich frage: “Was denn, Oma?” Sie fährt fort: “Das sind meine Möbel, da ist mein Schrank, mein Fernseher, und da ist meine Couch. Aber wieso bin ich hier?” Ich antworte: “Na, du wohnst hier doch.”

Sie guckt sich um, zweifelt vielleicht? Dann fragt sie: “Wo kann man denn hier pinkeln gehen? Ich weiß gar nicht, wie das hier geht. Wo schlafe ich?” Ich erkläre es ihr möglichst einfach. Und wieder fragt sie: “Wo ist denn das Klo, zeig mir das doch mal.” Sie wollte wohl einfach nur aufs Klo und wusste nicht, wie sie es sagen soll.

3. Juli 2009

Morgens ist alles ok. Das erste Mal musste sie um 7 Uhr. Ich habe eine Ganzkörperwaschung gewagt, es ist ja nicht kalt. Sie sitzt auf dem Toilettenstuhl und ich bin drum herum gewirbelt. Eines nach dem anderen abgewaschen, abgetrocknet und eingecremt. Es hat ihr gefallen. Dann muss ich einkaufen. Sie hört, dass ich wieder komme und ruft jammernd “Philip?” (der Urenkel der Großmutter; Anm. der Redaktion). Sie will aufs Klo, aber sie ist eingefangen und gefesselt hier am Stuhl. Klar, sie kommt nicht gut raus, wenn die Füße auf den Stützen stehen. Aber es war wohl eher der fremde Raum, weil ich sie ins schattige Wohnzimmer gestellt hatte.

Um 12 Uhr ist Lymphdrainage. Später gibt es Rote Grütze. Die isst sie gern auf. Macht eine Stunde Mittagspause. Wird danach hellwach und muss erst mal auf Klo. Dann TV. Sie braucht mal wieder ihre Brille dazu. Sie guckt interessiert “Rote Rosen”, weil sonst nichts Schönes kommt.

6. Juli 2009

Wir haben gut geschlafen. Es läuft gut. Ich konnte sie morgens alleine lassen. Nach dem Mittagessen: “Woran denkst du Oma?” Sie: “Ich denk an alles und gar nichts. Wo soll ich denn nachher hin?” Ich hake nach: “Was meinst du damit?” Sie: “Für mich ist das schlimm. Was würdest du an meiner Stelle machen?” Ich sage: “Na, Mittagschlaf, danach meine Serien gucken, Zeitung lesen. Und was möchtest du machen?” Sie: “Das ist ja der Haken. Ich weiß nicht, was.”

Ich bringe sie in ihr Zimmer zum Mittagschlaf und sie ist erst mal zufrieden. Nachmittags geht sie sogar alleine zum Klo und guckt Alexander Hold, der “ist ja immer interessant”.

Nach dem Abendessen steht eine besorgte kleine Frau in ihrem Zimmer und fragt, ob sie auch ein Nachthemd dabei hat. Unser Gespräch führt dahin, dass ich ihr alle Schränke mitsamt Inhalt genau zeigen muss. Sie ist erstaunt, dass alles hier ist, wo sie doch sonst bei Petra wohnt, da ist ihr richtiges Zuhause. Jetzt guckt sie skeptisch “Gute Zeiten-Schlechte Zeiten”. Gegen kurz vor 22 Uhr will sie ins Bett gehen. Sie macht sich Sorgen, dass sie des Nachts auf Klo muss, denn sie hatte heute keinen Stuhlgang.

14. September 2009

Nachts um 1:00 Uhr gehe ich Oma wenden. Sie ist hellwach und desorientiert. Um 3:00 Uhr ruft sie ganz laut. Sie will aufstehen. Ich gebe ihr eine viertel Bromazanil (ein Mittel, welches zur Behandlung von akuten Angstzuständen, als Beruhigungsmittel oder Schlafmittel verwendet wird; Anm. der Redaktion), reibe sie mit Lavendel ein. Kurz vor acht stehe ich auf. Sie ist hellwach und beginnt mit Kletterübungen. Sie weiß aber nicht, warum. Sie muss aufs Klo, hat Stuhlgang, endlich! Danach lege ich sie kurz noch einmal hin und hole sie um 9:00 Uhr zum Frühstücken. Mein Sohn Philip hat Geburtstag, er kommt auch dazu. Ich lege sein Geschenk auf den Tisch. Oma hat sich schon alles zum Essen zusammengesucht und Kaffee eingeschüttet. Als wir endlich zusammensitzen, macht ihr das Frühstück schon keinen Spaß mehr. Oder ihr Appetit ist weg. Sie gratuliert förmlich, aber nicht von selbst. Als wäre es ein Fremder, mit dem sie halt an einem Tisch zusammen sitzt. Aber ich habe auch kein Geschenk für sie vorbereitet und ihr zum Überreichen gegeben. Nach dem Frühstück kleine Wäsche, Oma schnell ins Bett. Schwester Angelika vom Pflegedienst kommt, danach Wunde massieren, sie ist eilig weg. Sie hofft auf ein baldiges Erscheinen von dem Chirurgen. Danach fahre ich kurz einkaufen. Oma bleibt wach. Sie will aufstehen und fragt nach dem Katheter. “Guckt mal! Hier ist so ein Ding.” Ich erkläre: “Ja, das ist zum Pipimachen.” Oma: “Das brauch ich nicht. Das schlägt einem doch an die Beine.” Ich: “Oma du läufst doch gar nicht mehr!”

Etwas später ist alles mies und macht ihr keine Freude mehr. Ein Leben, wo Oma nichts mehr kann! Zum Mittagessen will sie die Nudeln nicht essen. Aber unter schwerer Anstrengung einen Joghurt. Sie leidet immens. Versteckt sich hinter ihrer Hand. Um 22:00 Uhr will sie aus dem Bett und nach Hause. Das 100ste “Was-ist-mein-Zuhause?”-Gespräch folgt. Am Ende beschließen wir, dass wir morgen noch einmal darüber reden wollen. Ich gebe ihr eine halbe Bromazanil.

15. September 2009

1:00 Uhr. Sie schläft tief und fest. Ein sehr leiser kleiner Atem. Dann ruft sie auf einmal um kurz vor zwei. Sie will aufstehen, einkaufen. Ich mache erst einmal Licht. Das findet sie gut. Aber sie lässt sich nicht beruhigen. Sie glaubt mir nicht. Ich mache das Licht aus, damit sie sieht, es ist Nacht. Philip (der Enkel der Großmutter; Anm. der Redaktion) wird wach von dem Getöse, kommt dazu und beginnt mit ihr zu diskutieren. “Oma du bist böse, du hast mich geweckt.” Am Ende will sie nur noch schlafen, wenn ich bei ihr bleibe. Also muss ich aufs Sofa. Sie fragt noch mehrmals nach, gibt dann aber Ruhe. Aber die Pumpe der Matratze lässt mich nicht wirklich zur Ruhe kommen. Als sie ruhig atmet, will ich in mein Bett. Um 4:30 Uhr ruft sie nach ihrem verstorbenen Mann: “August, August!” Sie will schon wieder raus, aber nicht zum Klo. Um 6:00 Uhr das gleiche. Da ruft sie nach ihrem Sohn Werner, er soll das Licht reparieren. Um 7:30 Uhr will sie aufstehen.

Nach dem Frühstück wasche ich ihr Gesicht, rasiere sie und creme sie ein. Ein Fußbad möchte sie gerne nehmen. Das genießt sie, denn ihre Füße sind kalt. Ich reibe sie danach mit Rosmarinöl ein. Lege sie dann wieder ins Bett. Ihr Sohn Dieter kommt. Sie spricht ganz leise und unverständlich. Zum Mittagsschlaf hat sie wieder die Augen auf. Ich gehe zur Arbeit.

18. Dezember 2009

Kurz vor 4 Uhr geht es los: die Pflaster vom Arm gerissen, die Bettdecke blutig. Sie ruft: “Guck mal, da ist so ein Schlauch im Sessel, der muss da weg!” Katheteralarm! Wir zanken uns. Bis um 6 Uhr fummelt sie nur rum und gibt keine Ruhe, ich liege natürlich wieder bei ihr. Um 6 Uhr habe ich genug und stehe auf, sie will auch raus. In meinem Zimmer arbeite ich an meinen Hausaufgaben für die Fortbildung. Oma spricht vor sich hin: “Komm doch wech! Das is´doch nicht unser Zimmer. Ich geh jetzt zum Nachbarn. Katja, Mensch mach die Lampe aus! Das gehört doch fremden Leuten. Mach das Radio aus! Gleich kommt die Polizei. Wir haben doch keinen Mietvertrag! Der Nachbar weiß alles.”

Sie will nach einer Stunde wieder ins Bett, dabei möchte ich ihr den Po sauber machen. Aber das geht nicht, weil da fremde Leute sitzen, meint Oma. Später will sie aufs Klo und dann kann ich loslegen.

Nach dem Abendessen bleibt Oma unruhig. Der linke Fuß ist jetzt immer gestreckt und der Schuh hält kaum noch. Trotz aller Versuche, ihn auch im Bett so abzustützen, dass er beweglich bleibt, streckt Oma ihn sehr gerne. Sie ist also ständig mit einem Fuß schon aus dem Rollstuhl raus und unterwegs. Ich bin verzweifelt über so viel Unruhe und Energie, die in Oma stecken und gebe ihr zu der üblichen Tryptohandosis (ein Schlummertrunk mit einem hohen Anteil der Aminosäure Tryptophan gegen Schlafprobleme; Anm. der Redaktion) noch Aurum (ein homöopathisches Mittel; Anm. der Redaktion) in der Hoffnung, dass es hilft.

22. Dezember 2009

Um 3:30 Uhr ist die Nacht rum, weil sie keine Zähne drin hat. Außerdem sind wir bei fremden Leuten und ich soll das Licht anlassen. Nachdem ich ihr die Zähne gegeben habe, dämmere ich wieder ein. Um 6 Uhr ruft sie: “Hallo!” Das muss jetzt geklärt werden und ich soll die Nachbarn holen. Ich guck zur Tür raus, das ist falsch, ich soll die andere Tür nehmen. Das mache ich aber nicht, weil dann die echten Nachbarn zuhören können. Ich versuche, ihr klar zu machen, dass die schlafen und wir später hingehen werden.

Um 8 Uhr will ich aufstehen, dann meint sie, es sei noch zu dunkel. Etwas später muss ich sie ganz schnell anziehen, einen guten Pullover, weil die Ärztin kommt. Und den Hüfthalter! Ich weigere mich, den Hüfthalter zu holen. Den hat sie doch immer an. Ich wäre noch nicht volljährig und sie bestimmt.

27. Februar 2010

Um 7 Uhr ist sie wach, erst mal ängstlich, aber dann findet sie sich zurecht. Später will sie raus aus dem Bett. Sie hat gar keine Küche und keinen Kamm. Wo sind denn der Mantel und die Schuhe? Beim Frühstück rutscht das Brötchen schlecht. Sie findet in der Zeitung eine Todesanzeige einer entfernten Verwandten. Das gibt ihr den Rest. Nun ist alles verloren.

Ich suche im Gesangbuch Gebete für alte Menschen in schwierigen Lebenssituationen und lese sie ihr vor. Sie lauscht interessiert, aber danach geht es weiter. Sie findet keinen Trost.

2. März 2010

Gegen 0:30 Uhr und 2:30 Uhr ist sie desorientiert und muss Pippi machen. Um 6:30 Uhr ist sie wach und etwas später ruft sie mich wieder. Oma´s Freundin Klärchen kommt endlich mal vorbei. Oma will aufstehen, sitzt mit Wolldecke und Stillrolle gepolstert im Stuhl, damit sie nicht zur Seite wegsackt. Kaffeetrinken mit Tischdecke und dem Porzellan geht gut und dann wieder Pippi. Klärchen hilft netter Weise, weil ich die Oma nicht aus dem Stuhl heben und gleichzeitig den Sitz entfernen kann zum Pipimachen. Danach sitzen die beiden zusammen vor Omas Fotokiste und gehen durch ihre gemeinsame Vergangenheit.

Ich gehe eine Runde laufen. Als ich wieder komme, sitzen zwei alte Damen mit strahlenden Augen ganz erfüllt von dieser schönen Erinnerungsstunde unter der Lampe. Klärchen ist ganz ergriffen und verabschiedet sich in dem Bewusstsein, dass dies wohl ihr letzter gemeinsamer Nachmittag war, wo sie so vertraut miteinander reden konnten.

14. April 2010

Sie schläft bis 2:30 Uhr. Ich wach natürlich schon vorher auf und liege wach herum. Als sie endlich ruft, hat sie sich ausgezogen und einen kalten Bauch. Anziehen, Pippi und Aa machen, neu lagern. Danach knöttert sie herum bis um 5 Uhr.

Heute Nacht hab ich mir so gewünscht, dass sie bald stirbt. Draußen ist Frühling. Veränderung, Leben. Und ich bin ans Haus gefesselt und warte auf den Tod. Und möchte schlafen.

Abends ist Oma ruhig, redet aber unverständlich. Sie hört schlecht und träumt mit offenen Augen. Oma schläft beim Beine einreiben ein. Ich bete für sie. Sie wirkt wie eine Greisin, die ihrem Enkelkind zuschaut. Aber vielleicht ist sie auch das kranke Kind, das die Mutter arbeiten sieht und nicht quängelt. Hoffe, dass wir Ruhe haben, heute Nacht. Jetzt jammert sie schon wieder, das rechte Bein schmerzt wohl. Die Haut ist vom Ödem (eine Schwellung des Gewebes; Anm. der Redaktion) stark gespannt.

17. Mai 2010

Abends will Oma unbedingt noch Kartoffelsalat essen. Gegen 21 Uhr ist sie mit Kartoffelsalatgeschmack im Mund gestorben. Für sie war es wahrscheinlich schön, ich hab´s kaum ausgehalten. Sie war 96 Jahre alt und hinterließ drei Söhne, fünf Enkel und vier Urenekel.

Quellenangabe zum Titelfoto:

Foto: Mark L. Edwards / www.flickr.com

Katja Hörter ist studierte Sozialarbeiterin und Kunsttherapeutin und schrieb als Autorin für den Blog des Dialog- und Transferzentrums Demenz (DZD) über die Pflege ihrer demenzkranken Großmutter in ihrem letzten Lebensjahr (zwischen 2009 und 2010). Die Reihe wurde auf dem Blog des DZD im Juni 2013 begonnen und im Mai 2014 abgeschlossen. Hier der Link zu allen Einträgen aus dem Demenztagebuch von Katja Hörter. Kontakt: katjahoerter@yahoo.de.

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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