Dorothea E. Orem: Das Modell der Selbstpflege

In den nächsten Monaten werden wir das E-Book “Selbstmanagement in der Pflege” veröffentlichen. Als Vorgeschmack veröffentlichen wir vorab einige Beiträge in aktualisierter Form aus der gleichnamigen Serie. Heute widmen wir uns dem Modell der Selbstpflege nach Dorothea E. Orem: ein moderner Klassiker aus der Pflegetheorie. Was sagt uns dieses Modell aktuell? Warum ist Selbstpflege so wichtig?

Die Prävention, also die Vorbeugung im Gesundheitsbereich, ist derzeit in aller Munde. Es vergeht kaum ein Tag, wo wir nicht in den Medien solche Dinge wie “Sorgen Sie für gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung” oder “Trainieren Sie Ihre grauen Zellen” lesen können. Dahinter verbirgt sich ein größeres gesellschaftliches Programm: Da unsere Gesellschaft immer älter wird, ist die Eigenverantwortung für einen möglichst gesunden und ausgewogenen Lebenswandel wichtiger denn je. Das Modell der Selbstpflege von Dorothea E. Orem liefert dazu einige sehr bemerkenswerte Anhaltspunkte und Erkenntnisse, die auch heute noch von anhaltender Bedeutung sind. Erstmals in der Öffentlichkeit bekannter wurde das Modell von Orem mit dem Erscheinen des Buches “nursing concepts of practice” im Jahre 1971.

Der gesellschaftliche Stellenwert der Prävention

Stellen Sie sich unsere Gesellschaft als ein größeres System vor, das aus lauter kleineren Systemen besteht. Die kleineren Systeme sind u. a. die Wirtschaft, die Politik, aber auch die Gesundheitsversorgung, die Pflege und die Medizin. Und alle diese Systeme beeinflussen sich untereinander wechselseitig. Jetzt stellen Sie sich das Ganze doch bitte einmal als eine Stadt vor, sagen wir im Jahre 2030. In dieser Stadt leben nur noch ältere Menschen. Es gibt praktisch keine jüngeren Familienmitglieder oder professionellen Pflegekräfte mehr, die diese älteren Menschen bei der Pflege unterstützen könnten. Außerdem sind die meisten Haushalte von diesen recht alten Stadtbewohnern Singlehaushalte. Denn das Verhältnis zwischen den Generationen hat sich bis zu diesem Zeitpunkt grundlegend verändert.

Die Mehrzahl der Haushalte sind Einpersonenhaushalte, Dreigenerationshaushalte oder ähnliche Konstellationen bilden dagegen immer mehr die Ausnahme. Schon heute leben in Deutschland 23 Millionen Menschen bei uns allein. Und schon heute lebt jeder Dritte der über 65-Jährigen in einem Einpersonenhaushalt. Das hier skizzierte Zukunftsszenarium ist also gar nicht so abwegig.

Was glauben Sie wohl, welche Kosten auf uns zukommen, wenn wir nicht allmählich damit anfangen, der Prävention mehr Bedeutung zuzumessen? Ich rede hier nicht nur von Kosten in finanzieller Hinsicht, sondern gerade auch von Kosten, die wir im gesellschaftlichen Sinne tragen müssen, wenn wir uns nicht frühzeitig ausreichend Gedanken über die Versorgungsstruktur der Zukunft machen – und zwar insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. 

Aus dem professionellen Pflegesektor wissen wir etwa, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland derzeit überproportional angestiegen ist. So wurde beispielsweise in einer groß angelegten empirischen Studie aus dem Jahre 2011, in der Forscher über 1.500 Fragebögen ausgewertet haben, näher untersucht, welche Gründe für das „Ausgebrannt-Sein“ in der Pflegebranche in Deutschland unter professionellen Pflegekräften existieren. Neben einem schlechten Arbeitsklima zwischen Ärzten und Pflegenden und mangelnder Anerkennung empfinden 93 Prozent der stark Burnout-gefährdeten Pflegekräften in dieser Studie die Personaldecke als zu dünn. In gleicher Studie werden auch die durchschnittlichen Fehlzeiten von Pflegkräften bei der Arbeit genannt, mit vergleichsweise sehr hohen Fehlzeiten: Professionelle Pflegekräfte weisen mit 24,9 Tagen pro Jahr – neben Straßenreinigern (28,8 Tage pro Jahr) und Waldarbeitern (25,1 Tage pro Jahr) – die höchsten Fehlzeiten in der Arbeit vor. Hier ein Link zu den Ergebnissen der Studie: http://www.mig.tu-berlin.de/fileadmin/a38331600/2011.publications/2011_zander_ Pflegezeitschrift_Burnout.pdf.

Diese Entwicklungen scheinen u. a. in gesellschaftlicher Hinsicht ein Indikator dafür zu sein, dass der hohe Stellenwert der Prävention und die Notwendigkeit der Selbstpflege praktisch noch nicht wirklich ausreichend verinnerlicht worden sind. Selbstpflege bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, die Verantwortung für die Pflege von hilfebedürftigen älteren Menschen ernst zu nehmen und deren eigene Selbstfürsorge zu bestärken, sondern eben auch für die eigene Pflege ausreichend zu sorgen: etwa für genügend mentalen und physischen Ausgleich. Denn wir leben gerade in einem Jahrhundert, in dem chronische Krankheiten wie Alzheimer und psychische Erkrankungen wie Depression kolossal zunehmen.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat diese Entwicklung äußerst präzise und erhellend in seinem wegweisenden Buch “Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart” nachgezeichnet. Dabei ist u. a. bemerkenswert, dass psychische Erkrankungen wie Depression vor allem in westlich-geprägten Kulturen vorzufinden sind bzw. in solchen Kulturen, die unser Leistungsschema mit seinen zum Teil fatalen Folgen für Mensch und Umwelt adaptieren.

Das Modell der Selbstpflege nach Dorothea E. Orem

Was bedeutet Selbstpflege? Was versteht Dorothea E. Orem unter dem Modell der Selbstpflege? Unter dem Begriff der Selbstpflege versteht man Handlungen, die auf das Selbst oder die Umwelt gerichtet sind – mit dem Zweck, den Zustand der Gesundheit möglichst so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Streng genommen ist zwar unser Organismus alles andere als gesund, denn unsere Natur ist gerade nicht auf ewiges Leben programmiert, dennoch lässt sich nicht leugnen, dass sich die Lebensqualität durch die Selbstpflege steigern lässt.

Bei dem Pflegemodell von Orem handelt es sich um ein Modell, in dem die Eigenständigkeit der Pflege gefördert wird. Der zentrale Gedanke von Orem lautet, dass die Menschen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden dadurch verbessern können, indem sie für sich selbst Sorge tragen, eben ihr “Selbst pflegen”. Aber wie funktioniert das? Und was passiert, wenn das nur noch sehr eingeschränkt möglich ist – etwa bei Demenz?

Orem hat viele Erfahrungen in praktischen Fragen der Pflege und Versorgung gesammelt. Das liegt vor allem darin, dass sie zunächst in den frühen 1930iger Jahren nach ihrer Ausbildung als Krankepflegerin an einer Krankenpflegeschule in Washington, D. C., über viele Jahre praktisch in diesem Feld gearbeitet hat. Aber nicht nur das: Sie erwarb 1939 und 1945 auch den ersten und zweiten akademischen Grad im Fach Pädagogik der Krankenpflege, bekleidete schließlich mehrere einflussreiche Ämter und Positionen, verfasste verschiedene Schriften und Bücher zu pflegerelevanten Fragestellungen, erhielt mehrere Ehrendoktortitel und gründete im Jahre 1980 eine eigene Beratungsfirma für Pflege und Pflegeausbildung – “Orem & Shields, Inc.” in Maryland in den USA.

Es ist Orem zu verdanken, Fragen der gesundheitlichen Verantwortung und Vorsorge unter dem Begriff der “Selbstpflege” – von der Medizin auf die Pflege angewandt und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Die Frage, wie man für sich selbst sorgen kann – und zwar im gesundheitlichen Sinne – ist ja zunächst einmal eine medizinische Fragestellung. Wenn Sie beispielsweise mal wieder bei Ihrem Hausarzt einen Termin wahrnehmen, geht es zumeist um die Frage, wie es um den Zustand Ihrer Gesundheit bestellt ist bzw. welche Maßnahmen ergriffen und welche Medikamente verschrieben werden sollten, um ihren Krankheitszustand zu verbessern.

Der Blick des Arztes auf den Zustand Ihrer Gesundheit lässt sich zum Teil auch auf die Selbstpflege beziehen: Wie sorgen Sie persönlich für das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist? Welche Strategien wenden Sie im Alltag an, wenn Sie mal wieder in eine größere Stresssituation hineingeraten sind? Derartige Fragestellungen sind an medizinische Fragestellungen ausgerichtet. Dementsprechend weisen die Schlüsselbegriffe, die Orem verwendet, auch einen starken medizinischen Bezug auf, etwa solche Begriffe wie “Diagnose”. Dabei basiert das Modell von Orem auf insgesamt drei theoretischen Teilen.

Dazu gehören folgende theoretische Teilelemente:

  • die Theorie über die Selbstpflege
  • die Theorie über ein Selbstpflegedefizit
  • die Theorie über das Pflegesystem

Die Theorie über die Selbstpflege ist zielgerichtet und befasst sich mit Fragestellungen, die mit der Entwicklung des Menschen und seiner Gesundheit zusammenhängen. Dabei steht bei Orem der Fokus auf der eigenen Handlungsfähigkeit: Ist eine Person dazu befähigt, für Ihre eigene Pflege Vorsorge zu tragen oder nicht? Eine Person, die beispielsweise an einer Demenz erkrankt ist, ist dazu ja nur recht eingeschränkt in der Lage. Allerdings geht es auch in diesem Fall nicht darum, die Abhängigkeit zwischen der pflegenden und der hilfebedürftigen Person zu erhöhen – sondern geradezu im Gegenteil den hilfebedürftigen Menschen auch bei Demenz zumindest bis zu einem gewissen Grad als eine aktiv handelnde Person zu betrachten.

Ein gutes Beispiel dafür ist eine Pflegekraft, die sich nicht zu stark zu der Vergesslichkeit einer demenzkranken Person Gedanken macht, sondern danach fragt, in welchen Bereichen diese Person noch handlungsfähig ist, und inwieweit diese Handlungsfähigkeit noch weiter aufrecht erhalten werden kann. Nehmen wir weiterhin an, dass diese Person noch selbstständig Tee kochen, Betten machen und Blumen gießen kann. Also bestärken wir diese Fähigkeiten dadurch, dass wir diese im unterstützenden Sinne fördern. Und gerade dadurch wird die Selbstpflege verbessert: Denn die demenzkranke Person wird sicherlich ein wesentlich besseres Gefühl  haben – vor allem wenn die Selbstständigkeit bis dato immer eine große Rolle in ihrem Leben gespielt hat – wenn Sie sich zumindest noch vereinzelt als selbstständig handelnder Mensch wahrnehmen kann.

Die Theorie über ein Selbstpflegedefizit besagt, dass wir es mit Personen zu tun haben, die wegen gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr dazu in der Lage sind, sich selbstständig zu pflegen. Das ist bei demenzerkrankten Personen eindeutig der Fall. Wenn es nun nicht mehr gewährleistet ist, die Selbstpflege zumindest in Teilbereichen noch zu bewahren, erhöht sich auf der anderen Seite auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der pflegenden und der zu pflegenden Person.

Orem verwendet vor diesem Hintergrund den Begriff “Abhängigkeitspflegedefizit”. Das bedeutet, dass der Bedarf an pflegerischer Zuwendung wesentlich größer ist als die gegenwärtige Selbstpflegekompetenz. Zu betonen ist dabei außerdem, dass Orem das Augenmerk in diesem Abhängigkeitsverhältnis zu Lebzeiten (sie lebte bis zum Jahre 2007) nur sehr wenig auf chronische Krankheitsfälle gerichtet hat – geschweige denn gesondert auf Demenz. Hier gilt es ihren Selbstpflegebegriff auf chronische Fälle und demnach auch auf Demenz zu erweitern.

Fazit: Was sagt uns das Modell der Selbstpflege heute?

Die Theorie über das Pflegesystem besagt, dass Pflege ohne Interaktion, ohne menschliche Beziehungen und derartige Dinge überhaupt nicht denkbar ist. Dieser Einwand wird gerade in der Beziehung zwischen Pflegenden und hilfebedürftigen älteren Menschen besonders ersichtlich, aber auch im Zusammenhang zur gesellschaftlichen Verantwortung, wenn es um Fragen der zukünftigen Versorgung geht. Auch an dieser Schnittstelle macht es Sinn, das Modell von Orem weiter zu denken, zu hinterfragen und in Teilbereichen zu aktualisieren, denn zu Lebzeiten hat Orem die Frage nach der Umwelt zwar thematisiert, jedoch nie wirklich zufriedenstellend erforscht.

Mit “Umwelt” meine ich das Umfeld, in dem wir uns tagtäglich bewegen – sei es das organisationale Umfeld, etwa Personen, die in einer bestimmten Abteilung einer Organisation mit bestimmten Personen zusammenarbeiten (Krankenschwester, Ärzte usw.) und die Beziehung untereinander, die auch die Versorgung der Patienten beeinträchtigt, oder etwa auch das familiäre Umfeld. Sie erinnern sich vielleicht: Der Fokus dieser Reihe über “Selbstmanagement in der Pflege” liegt vor allem auf den Beziehungsaspekt. Wer zu sich selbst ein gutes Verhältnis hat, hat auch zu anderen Menschen ein besseres Verhältnis, die er pflegt.

Damit wären wir auch schon am Ende dieses Beitrags angelangt: Die Frage nach der Selbstpflege bezieht sich eben nicht nur auf jene Menschen, für die wir als professionelle Pflegekraft Sorge tragen, sondern auch auf Ihre eigene persönliche Selbstfürsorge. Und die Selbstfürsorge oder Selbstpflege ist dabei nicht auf rein physische Aspekte wie ausreichend Bewegung oder die Versorgung mit bestimmten Medikamenten bezogen. Wir dürfen nämlich gleichfalls nicht außer Acht lassen, wie wichtig zugleich der mentale Ausgleich ist. Also die Frage danach, inwieweit chronischer Stress gerade auch eine Kopfangelegenheit ist und wie diese Art von Stress schon möglichst frühzeitig vermieden werden kann. Auf der anderen Seite stehen all diese Faktoren auch im direkten Verhältnis zu der Art und Weise, wie wir für gewöhlich unsere Beziehungen gestalten: Ein gutes Maß an Selbstpflege trägt dementprechend auch zu entspannteren und nachhaltigeren Beziehungen bei.

Quellenangabe zu den Fotos:

Foto: busy.med.student/ www.flickr.com

Foto: Pauline S. / www.flickr.com

www.medicalarchives.jhmi.edu/images/0171677w.jpg

Schwester KA / PflegeWiki

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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Weiterführende Literatur:

  • Ehrenberg, A. (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Campus Verlag.
  • Orem, D. E.; Hartweg, D. L. (1991): Self-Care Deficit Theory. London: Sage Publications.
  • Orem, D. E. (1985): Nursing: Concepts of Practise. New York: McGraw-Hill.