Wahnvorstellungen oder Halluzinationen sind herausfordernde Symptome, die Pflegenden von Menschen mit einer Demenzerkrankung immer wieder begegnen. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Rahmenempfehlungen zum Umgang mit diesen Symptomen in der Pflegewissenschaft zu finden sind.
“Einen Wahn verlieren macht weiser als eine Wahrheit finden.” – Ludwig Börne
Im Umgang mit Wahn und Halluzinationen stellen sich in der professionellen Pflege im Kern folgende Fragen:
- Soll man in den Wahn einer zu pflegenden Person einsteigen oder nicht?
- Soll man Halluzinationen als solche entlarven oder nicht?
- Soll man im Umgang mit Wahn und Halluzinationen lügen oder nicht?
In diesem Beitrag will ich Ihnen aufzeigen, welche Erkenntnisse und Rahmenempfehlungen aus der Pflegewissenschaft zu diesen Fragen existieren. Vorab stellt sich allerdings die Frage, worin der Unterschied zwischen Wahn und Halluzinationen besteht.
Zwei Beispiele dazu:
Wahn
“Eine Frau, die ich pflege, hält mich für ihre Enkelin. Davon ist sie nicht abzubringen. Wenn ich ihr sage, dass ich es nicht bin, wird sie böse und beschimpft mich als `dummes Ding´, welches ihre Großmutter veräppeln will. Wenn ich mitspiele, ist es leicht sie zu betreuen und wir haben beide viele Freude miteinander. Darf ich das?”
Halluzination
“Eine Bewohnerin sieht regelmäßig Hasen auf ihrem Bett. Ich tue dann so, als ob ich sie vertreibe. Sie ist dann meistens zufrieden und kann schlafen. Letzte Woche hat das aber nicht funktioniert. Wir mussten sie mit dem Bett auf den Flur bringen. Da hat sie dann geschlafen.”
Wissenschaftliche Literatur zu Wahn und Halluzinationen
Betrachtet man die wissenschaftliche Literatur zur Thematik Wahn und Halluzinationen unabhängig vom Krankheitsbild, bei dem derartiges psychotisches Erleben auftritt, stellt man folgendes fest: Offenbar ist sich die Wissenschaft weitestgehend darin einig, dass man bei Nicht-Demenzerkrankten keinesfalls auf Wahnideen der Betroffenen einsteigt. So findet man etwa in dem Standardwerk “Lehrbuch Psychiatrische Pflege” (u. a. herausgegeben von Dorothea Sauter) einzelne Empfehlungen wie: “Steige nicht in die Wahnwelt der Patienten und Patientinnen ein.” Allerdings sind derartige Hinweise nicht explizit für den Umgang mit Demenzerkrankten entwickelt.
Aber wie sieht es nun in der Praxis aus?
Mitgehen in den Wahn als Lösung?
Die wissenschaftlichen Expertenmeinungen zu dieser Frage klaffen relativ weit auseinander. In den “Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz” des Bundesministeriums wird dies noch einmal deutlich gemacht. So empfehlen Erwin Böhm (1990), Begründer des “Psychografischen Pflegemodells” und Sven Lind (1995) sehr wohl, zur Lösung durch Wahn und Halluzinationen ausgelöster Situationen in die Wahnwelt einzusteigen. Sven Lind empfiehlt, vom Demenzerkrankten gesehene imaginäre Murmeltiere beispielsweise durch einen Besen zu “vertreiben”.
Diese Empfehlung Linds bekommt allerdings vor dem Hintergrund seines Konzeptes mit den entscheidungsweisenden Kriterien “Effektivität (Wirksamkeit), Effizienz (Wirtschaftlichkeit) und Praktikabilität (Durchführbarkeit)” einen faden Beigeschmack. Wenn Praktikabilität und Effizienz im Lindschen Sinne entscheidend sind, sind sogenannten “schnellen” Lösungen, die unter Umständen lediglich dem Wohle der Betreuenden, nicht aber den Demenzbetroffenen dienen, Tür und Tor geöffnet.
Personenzentrierte Pflege handelt anders
In Deutschland weit verbreitete Ansätze in der Betreuung Demenzerkrankter sind Ansätze wie “Validation nach Feil” (1999), die “Integrative Validation nach Richard (IVA) (2000)”, die “Mäeutik nach Cora van der Kooij” (2007) oder der “Personenzentrierte Ansatz nach Kitwood” (2000). Diese Ansätze beziehen sich zu großen Teilen auf den Psychologen Carl Rogers (1902–1987), den Begründer des klientenzentrierten Ansatzes in der Psychotherapie (Rogers 1983). Diesen Ansätzen gemeinsam ist ein wertschätzender und “echter (wahrhaftiger)” Umgang mit den Betroffenen.
In diesem Zusammenhang bedeutet dies, dass das Mitgehen in das psychotische Erleben nach Möglichkeit nicht angewendet wird, da es dem Rogerianischen Grundsatz der Echtheit und Wahrhaftigkeit widerspricht. Einfach gesagt: Dessen Wirklichkeit ist nicht meine Wirklichkeit. In der Praxis bedeutet dies, das man nicht zu einer “Lüge” greift und so tut, als sähe man das Gleiche wie ein halluzinierender Betroffener.
Eine andere Form der Lüge wäre es in diesem Sinne, wenn man dem zur Arbeit wollenden Bewohner mitteilen würde, dass nun der Zug zur Arbeit bereits abgefahren sei und er sich deswegen nun noch einmal ins Bett legen könne.
Dies alles widerspricht einem solchen personenzentrierten Ansatz. Die vorgeschlagene Vorgangsweise wäre, die Gefühle desjenigen mit dem psychotischen Erleben im Kontakt mit der Person zu ergründen, diese zu wertschätzen und ihn auf diese Weise zu erreichen und mit ihm das Wesentliche hinter dem Symptom zu bearbeiten.
“Aber wenn es einen Weg gibt, sind Sie als Person mit Ihrer Haltung Teil des Weges.” – Detlef Rüsing
Fazit: Ist alles erlaubt?
Wir wissen sowohl von positiven und negativen Beispielen beider Zugangswege (“Mitgehen” und “personzentriertes Handeln”). Wenn wir aber als Wissenschaftler ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass es für keine der beiden Arten des Umganges wissenschaftliche Erkenntnisse hinsichtlich einer Überlegenheit gibt. Dies bedeutet zunächst einmal, das niemand zu verteufeln ist, der einen der beiden Wege geht. Bedeutet dies dann in der Konsequenz, dass es überhaupt keine Anhaltspunkte dafür gibt, welcher Weg der richtige Weg ist? Bedeutet dies, dass alles erlaubt ist?
Weit gefehlt! Viele Pflegende berichten beispielsweise, dass sie sich “schlecht” fühlen, wenn sie einen Betroffenen anlügen, nur damit er dann zu Bett geht. Auf der anderen Seite sind es aber gerade die schnellen einfachen Lügen, die uns schnell passieren. Dazu gehört der Hinweis, alles sei umsonst, wenn ein Bewohner unbedingt sein Essen oder den hauseigenen Friseur bezahlen will. Es sind die unnötigen Lügen, die wir Pflegenden manchmal so schnell von uns geben nur um nicht in lange – vielleicht bedrückende – Gespräche verwickelt zu werden.
Es gibt derzeit und wahrscheinlich auch in Zukunft keinen Königsweg zum Umgang mit Wahn und Halluzinationen bei Demenz. Aber wenn es einen Weg gibt, sind Sie als Person mit Ihrer Haltung Teil des Weges. Und an die Wissenschaft: Es ist Zeit zu handeln und die Praxis zu unterstützen. Der “richtige” Umgang mit Wahn und Halluzinationen ist ein echtes Praxisproblem, das viele zu lange nicht beachtet wurde.
Detlef Rüsing ist Pflegewissenschaftler und leitet das Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) an der Universität Witten/Herdecke. Rüsing verfügt ebenso über langjährige praktische Erfahrungen in der Alten- und Krankenpflege: Er hat dort über 16 Jahre gearbeitet. Seine Schwerpunkt liegt auf Theorie-Praxis-Transfer. Daneben ist er Herausgeber von “pflegen: Demenz. Zeitschrift für die professionelle Pflege von Personen mit Demenz”. Kontakt: detlef.ruesing@uni-wh.de.
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Weiterführende Literatur und Internet-Quellen:
- Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2007): Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe. Berlin: BMG. Auch frei online abrufbar unter folgender Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/fa_redaktion_bak/pdf_publikationen/Forschungsbericht_Rahmenempfehlungen_Umgang_Demenz.pdf.
- Feil, N. (1999): Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. München: Reinhardt.
- Kitwood, T. (2000): Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Hans Huber.
- Lind, S. (2007): Demenzkranke Menschen pflegen. Grundlagen – Strategien – Konzepte. Bern: Hans Huber.
- Van der Kooij, C. (2007): Demenz, Kommunikation, und Körpersprache. Integrative Validation (IVA). In: Demenz und Pflege. Tackenberg Peter, Abt-Zegelin Angelika (Hrsg.). Frankfurt: Mabuse.
- Rogers, C. (1983): Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart, Klett-Cotta.
- Sauter, D.; Abderhalden, C.; Needham, I.; Wolff, S. (2004): Lehrbuch Psychiatrische Pflege. Bern: Hans Huber.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Seebube / www.flickr.com
Hallo Herr Rüsing,
hab ich gerne gelesen ihre Ausführungen zum Thema und werde Sie gerne weiterverbreiten.
Für alle Beteiligten, wie ich immer wieder feststelle, auch für Pflegende, ein enorm verunsicherndes, herausforderndes Thema.
Ich hab in den letzten fast 30 Jahren ähnliche Erfahrungen machen dürfen, was ihre Gedanken zur rogerianischen Haltung betrifft. Bei einem ihrer Sätze würde ich gerne noch die dritte, enorm förderlich Haltung, nämlich „empathisch sein“, hinzufügen.
Oft können wir Menschen mit Demenz, wie Sie es ja wunderbar beschreiben, durch den wertschätzenden Kontakt erreichen, wie ich es gerne ausdrücke, eine Brücke in ihre Welt bauen. Das Wesentliche hinter dem Symptom zu bearbeiten, wie Sie meinen, ist nicht immer möglich, ja auch nicht immer nötig, würde ich behaupten. Hier ist es, finde ich, rogerianisch handelnd, enorm förderlich, uns von dem Menschen, den wir begleiten leiten zu lassen, sensibel zu sein und Impulse in Ihnen wahrzunehmen. Also ganz sein Erleben in den Mittelpunkt zu stellen und in uns spürend zu ergründen wie wir in der jeweiligen Situation, mit dem jeweiligen Menschen hilfreich sein können.
Zur Verdeutlichung: Eine Frau halluziniert einen Hund. Das entscheidende, nachdem wirklich geklärt ist, ob da nicht vielleicht doch ein Hund ist (hab ich immer wieder mal erlebt, das recht schnell was zum Wahn oder einer Halluzination erklärt wird), ist ja nicht ob dies nun wahr oder falsch ist, sondern wie erlebt die Frau den Hund: bedrohlich, lebendig, tröstend, kuschelig ….. Nun ist es recht förderlich, wie Sie ja auch immer wieder meinten, eine validierenden Begegnung entstehen zu lassen und oftmals ist allein dadurch alles schon ein wenig leichter und keiner der Begleitpersonen musste sich dafür ethisch verbiegen, also, wenn auch oftmals gut gemeint, lügen.
Auch wenn, oder gerade weil ich aus der personzentrierten Ecke komme, ist es auch mir wichtig geworden keinen der aufgezeigten Wege zu verteufeln, sondern immer wieder dialogisch ins Gespräch zu kommen, um Menschen hilfreich zu sein, damit es auf allen Seiten zu mehr Wohlbefinden kommt, denn wie Sie es so nah am Menschen, nah an der Praxis ausdrücken: „wenn es einen Weg gibt, sind wir als Person mit unserer Haltung Teil des Weges“.
Ich hab in den letzen Jahren in vielen Schulungen, auch in der Ausbildung von Altenpflegekräften, immer wieder erfahren dürfen wie wichtig (wie ja auch Kitwood meint) es ist, dass in der Begleitung von Menschen mit Demenz alle auf sich schauen, nicht nur Empathie, sondern Selbstempathie eine größere Rolle spielt, was oftmals vor allem Arbeit an uns selbst und unserer Haltung bedeutet. Ein weites Feld, viel gäbe es zu noch sagen …..,
seien Sie ganz herzlich gegrüßt,
Oliver Kreim
Hallo Herr Kreim,
ich stimme Ihnen zu. Interessant fand ich nochmals den Hinweis von Ihnen, dass eine für Betreuende schwer nachvollziehbare Situation/ein Erleben nicht immer ein Wahn oder eine Halluzination sein muss. Ich selbst habe in meiner Praxis als Altenpfleger erlebt, dass ein vermeintlicher Bestehlungswahn kein Wahn war. Die Person wurde in der Tat bestohlen!! Ein interssanter Aspekt wäre also: Führt eine Demenzerkrankung nicht allzu schnell dazu, dass der Person im Zweifel nicht geglaubt wird?! Noch wichtiger: Wie können wir das verhindern?
Herzlichen Gruß
D. Rüsing
Hallo Herr Rüsing,
meine Erfahrung diesbezüglich zeigt mir immer wieder, dass in Einrichtungen oder Haushalten, in denen es vor allem um die Demenz geht, wo vor allem die Krankheit im Mittelpunkt steht, eben oftmals viel schneller ein vermeintlicher Wahn oder eine Halluzination im Raum steht, als wenn die Person im Mittelpunkt steht, die eben auch so etwas wie eine Demenz hat.
Dies ist für mich immer wieder einer der Gründe nicht von der Demenzerkrankung zu sprechen, sondern von “Menschen mit Demenz” oder meine neueste Version von “Menschen, die auch so etwas wie eine Demenz haben”.
Dies ist für mich auch wieder ein Beispiel, welches mir zeigt, das wir an uns arbeiten müssen, damit uns Menschen mit Demenz nicht wegbrechen, ihr Personsein erhalten bleibt und sich immer wieder Wohlbefinden auf allen Seiten einstellen kann.
Also, ich tue mich schwer mit dem Begriff „Demenzerkrankung“, vor allem, weil dadurch eine Stigmatisierungstendenz zunimmt, es eben recht schnell klar zu sein scheint was „Sache“ ist.
Nicht der Mensch und sein Erleben, sondern die Defizite durch etwaige Störungen werden in den Mittelpunkt gerückt und es nimmt sich dann oftmals keiner mehr Zeit, um einen etwaigen Wahrheitsgehalt einer verrückt erscheinenden Aussage zu prüfen, sondern die Schublade Wahn / Halluzination wird ganz schnell aufgemacht. Außerdem ist mir durch das Pathologisieren zu schnell scheinbar geklärt, welche Wissenschaft hier die Bestimmende, die Entscheidende ist, also die Medizin, was ich anders sehe.
Wie wir beide aus Erfahrung wissen, sind ja alle möglichen Verhaltensweisen, die der Fachmensch unter „herausforderndem Verhalten“ subsummiert, nicht unbedingt zuallererst einer Neuropathologie geschuldet, sondern entstehen im Beziehungsgeschehen oder sind milieutherapeutisch erklärbar.
Letztendlich geht es, wie ich finde, immer wieder darum Inter- und Intrapersonelle Geschehnisse zu reflektieren, an uns zu arbeiten, sowie kulturelle und wirtschaftliche Zustände herbeizuführen, aus denen nicht zuallererst kognitiv abwehrende, sondern spürend integrierende Menschen (eben auch Pflegekräfte, Begleiter von Menschen mir Demenz) erwachsen, Zustände, in denen es nicht vor allem um Gewinnmaximierung geht, sondern um das Wohl und der wirklichen Bedürfnisse von Menschen, wo vor allem auch im Kontext mit einer Demenz dann der erlebend spürende Mensch und nicht Etikettierungen handlungsweisend sind.
Seien Sie recht herzlich gegrüßt,
Oliver Kreim
Hallo zusammen,
was die Menschen mit Demenz wirklich sehen können wir nicht wissen. Auch in der Begleitung Sterbender erfährt man, dass die Personen Bilder sehen, die uns als Haluzination, Vision, Wahnvorstellungen vorkommen.
Ich bin 87 b-Betreuungskraft und selbst ich habe immer zu wenig Zeit auf die BW genügend einzugehen.
Was ich sehr schwierig finde, dass sehr viel Pflegepersonal (Fach- sowie auch Helfer) sich nicht mit der Demenz auskennen. Bei der Zunahme der BW mit Demenz muss dies in meinen Augen zur Pflichtqualifikation werden. So versteht die Pflege auch die Aufgabe einer 87 b-Kraft und durch gemeinsame Komunikation über den BW kann bestimmt etwas bewegt werden. Doch ist das Personal nicht geschult, versteht es die BW nicht und es reibt sich immer wieder große Aggression auf und das Personal ist viel genervter und angestrengter. Doch hier spielt sowieso die Empathie gegenüber den BW (mit oder ohne Demenz) eine sehr große Rolle.
Sehr schwierig empfinde ich es, dass BW ohne Demenz und BW mit Demenz in einem Wohnbereich leben. Warum schwierig – die BW mit Demenz essen z. B. einfach die Brezel, die einer BW ohne Demenz gehört – diese regt sich sehr auf, da diese ihr Sohn gebracht hat und sie sich diese vom Pflegepersonal mit Butter bestreichen lies – leider war sie zu langsam, was bedeutet dicke Luft im Wohnbereich, denn die Aussage der Frau ohne Demenz “die dürfen alles, denen kann man nichts verbieten, die sind immer bevorzugt und man sagt immer – die seien dement. Ist dies eine Entschuldigung für alles”
Der demente BW lies sich die Brezel schmecken, lächelte zufrieden beim Essen der guten Brezel und merkte nicht mal, dass die Frau sich so ärgerte…. und so gibt es aus dem Alltag viel zu erzählen.
BW mit Demenz mit großen “zeitaufwendigen, nervigen” Betreubedarf biete ich immer wieder im Zimmer Gebete (Vater unser, jedoch auch Engelgebete zum Auflösen der Traumen) an. Manche BW haben darauf sehr ihre Ruhe gefunden und diese “Traumaerzählungen (schreckliche Geschichten aus dem Krieg)” waren verschwunden. Andere lassen es nicht zu – lassen jedoch ein Märchen zu und werden dabei ruhig. Doch wie schon gesagt, die Zeit ist immer viel zu knapp.
Ich muss noch bezahlen – ich sage dann immer: es ist schon bezahlt – oder ihr Mann/Sohn/Tochter hat es schon bezahlt. Sie können das Essen jetzt geniessen. Einmal habe ich auch eine Quittung für die Frau ausgestellt und sie war zufrieden. Und manchmal ist der Grad zwischen Lüge und Wahrheit sehr schmall, doch hier ist die Empathie doch sehr wichtig und um Aggressivität zu vermeiden ist eine “Notlüge” auch sicher erlaubt. Agressive BW sind für alle sehr anstrengend. Soviel aus meiner Praxis. Wenn die Uni Interesse hat Märchen und Demenz zu erforschen – ich wäre dabei!
In diesem Sinne – herzliche Grüße aus dem Schwabenländle
Elke Keck
Ich komme ursprünglich aus dem “Krankenpflegebereich” – aber ich denke Sie beide, Frau Keck und Herr Kreim, haben wertvolle Kommentare hier beigesteuert. Die Betonung der eigenen Haltung und Empathie (auch letzlich genauso für sich selbst) und die Frage einer sinnvollen Trennung von Menschen mit Demenz und denen ohne Demenz ist durchaus brisant, wenn man sie aus den Augen der alten Menschen ohne Demenz betrachtet.
Die Verunsicherung in der Pflege ist angesichts der zum Teil völlig gegensätzlichen Stellungnahmen von Wissenschaftlern einerseits und der zu langen thematischen Aussparung der Demenz in früheren Ausbildungsgängen in der Alten- und Krankenpflege erklärbar.
Generell bin ich in der Praxis (ich musste irgendwann vor allem aus gesundheitlichen Gründen in die Lehre wechseln) eher nach einem eigenen Stufensystem vorgegangen. 1. Herausfinden, worin der Wahn, die Halluzination konkret sich manifestiert und wie dieser/diese auf den Betroffenen wirkt/sich auswirkt? 2. Was er für die unmittelbare Umgebung bedeutet?
3. Zunächst behutsamer Versuch der Anbahnung eine Realitätsbezuges (“Schauen Sie, hier in Ihrem Schrank – da ist kein Mann!” – und dabei den Pat. Schrank mit dem Pat. zusammen oder unter seiner direkten Sichtkontrolle kontrolliert!)” – aber, wenn das nicht möglich war – natürlich auch 4. bin ich dann, wenn Ablenkungen nicht griffen (und meine Erfahrung ist, dass diese höchstens in 30% der Fälle griffen), auf den Wahn/die Halluzination eingestiegen… – immer mit dem Ziel, den Betroffenen zu beruhigen und zu befrieden – auch im Interesse der Umwelt. Dazu gibt es einige Geschichten. Hier eine ganz kurze: Wir hatten mal, als ich Schüler auf der inneren Abteilung war, eine bettlägrige Patientin, die rief immer lautstark, sobald es dunkel wurde und sie im Dreibettzimmer schlafen sollte: “Angelika, Angelika bist du da?” (Angelika= ihre Tochter) – Da war allgemeine Beruhigung und Realität nichts nütze – die Botschaften kamen nicht an – auch nicht Licht anlassen, auf das Steckbecken setzen, etc. -. Da die Patientin so laut rief, dass mindestens 20 der 26 Patienten auf der Station kein Auge zugemacht hat, solange sie rief, haben wir alle (und ich auch mit vollster Überzeugung) – nachdem wir es rausbekommen hatten (die Patienten blieben 1985 ja noch wesentlich länger in der Klinik als heute) es so gelöst: 2- 3 x musste man zur Patientin reingehen…- möglichst kein Licht machen, sanft ihren Unterarm streicheln und flüstern: “Ja, Mama, ich bin da! Schlaf gut!”
Die Patientin beruhigte sich zunehmend und schlief dann ein (oft bis zum nächsten Morgen).
Wir hatten den Schlüssel zu den Bedürfnissen der alten Dame hier gefunden.
“Anlügen” um es mir einfacher zu machen in Form von “Ihr Sohn kommt heute!”… – habe ich nicht gemacht. Ich hätte mich nicht gut dabei gefühlt und das als unfair empfunden – aber Anlügen, um bei dem Patienten etwas menschlich oder therapeutisch zu erreichen – klar, notfalls auch das (“So -hier habe ich jetzt den Strom ausgeschaltet!” und Drücken des Schalters für kleine Nachtlichtbeleuchtung des Raumes auf den mannigfachen Hinweis des verwirrten alten Menschen hin. – “da läuft elektrischer Strom in mich rein!”[= via Infusionsleitung] – und, um das ständige Ziehen und Neuanlegen der Infusion zu beenden und den alten Menschen nicht anders ruhigstellen zu müssen …).
Aber die Zeiten heute sind andere.
Keine Zeit (wir haben als Schüler ja sogar noch die Zimmer geputzt – das war vom Putzen her aus meiner Sicht damals weitgehend entbehrlich – aber man lernte Patienten viel besser kennen, konnte Patienten gezielt beobachten und sich mit ihnen unterhalten), wenig Personal (heute in den Kliniken nur noch ca. 50% der Personals von damals / in Altenheimen gab es m. E. damals schon weniger Personal ), Hektik (in den Kliniken heute viel mehr schwerkranke Menschen, in den Heimen deutlich mehr Menschen mit Demenz). Für viele gute Ansätze (vgl. oben Gebete als religiöses Bedürfnis und auch gleichzeitig damit als Weg zur Ruhe zu finden , Kindergeschichten/Märchen als Erinnerung an frühe “helle” Kindertage) ist meist weder ausreichend Zeit noch Geld da = fehlende Personalressourcen.
Ich finde es gut, dass Sie mit diesem “Demenz-Ei” den Dialog in beide Richtungen fördern möchten- (Theorie – Praxis) gerade auch mit den jungen Menschen. Das ist sicher eine gute Möglichkeit, nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm sich ständig selbst zu bespiegeln.
Thematisch ganz neue Antworten waren jetzt bei diesem Thema für mich persönlich nicht viele dabei – aber der befruchtende Dialog – das Voneinander lernen und Miteinander nachdenken, statt ehrfürchtig und kritiklos und denkfaul vor neuen “Erkenntnissen” zu erstarren, erscheint mir oft auch die bodenständigere und pragmatischere Lösung zu sein.
Danke!
Weiter so!
Mit besten Grüßen!
Christoph Kochs
Lieber Herr Kochs,
es geht tatsächlich beim Demenzei nicht darum, ganz neue Antworten auf wichtige Fragestellungen in der Pflege zu liefern, sondern den Dialog in beide Richtungen zu fördern (Theorie – Praxis).
Und wir verfolgen dabei eher einen pragmatischen Ansatz, wobei das wiederum auch auf das Thema ankommt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist beispielsweise das Thema “Frühdiagnostik bei Alzheimer” (Demezei 01) wesentlich interessanter als der “Umgang mit Wahn und Halluzinationen” (Demenzei 02), weil wir in der Wissenschaft nach wie vor noch kein Therapieverfahren entwickelt haben, mit dem man das Problem Alzheimer lösen könnte. Und selbst im Bereich der Frühdiagnostik ist man sich noch keineswegs darüber einig, wo genau die Ursachen für Alzheimer liegen. Da wird nach wie vor in verschiedenen Disziplinen sehr viel geforscht. Auch gibt es in der Pflege(-Wissenschaft) Themen, die wirklich brisant sind, wohingegen andere Themen eher sehr praktischer Natur sind, etwa bei ganz konkreten Versorgungsfragestellungen.
Mit besten Grüßen
Marcus Klug
Hallo ich bin noch nicht volljährig umd leide unter halluzinationen.Ich sehe oft sachen die nicht da sind, meistens im zusammenhang mit Horror. Ich suche immer noch nach einer Lösung mit dem Klarzukommen. Ich sagte es bereits meinen Eltern aber die fanden dass das kein wirkliches Problem ist. Ich denke das einige von ihnen vielleicht schon erfahrung gemacht haben, mit unter Haluzinationen leidenen Menschen. Ich möchte in diesem Kommentar fragen ob jemand Tipps für mich hat wie ich diese Haluzinationen loswerden kann. Denn selbst obwohl ich meisten weiß das es nicht echt ist leide ich darunter. Wenn jemand eine Lösung hat könnte dieser dann diese als einen Kommentar unter diese Website schreiben?
Hallo an Herr Rüsing und Marillsen,
Zu Marillsen schreibe ich etwas am Schluss.
Mein Vater hatte am Anfang seiner Demenz Diagnose stärkere Psychosen die sich heute gebessert haben.
Ich sorge seit 2012 zusammen mit meiner Mutter für meinen demenzkranken Vater. Er ist mittlerweile 83 und ich 36.
Er bildete sich am Anfang ein, dass ihn ein böser Mann verfolgt wenn er in die Stadt geht, weshalb er sich
Schreckschusspistolen kaufte und immer mitnahm. Weiter erzählte er oft wie er unsere Nachbarin gesehen
habe wie sie in die Wohnung kommt und etwas klaut… dann wegrennt und am Ende in ein Auto steigt
und mit quietschenden Reifen wegfährt. Sehr gut ausgeschmückte Geschichten in denen er jedes Detail erzählen konnte
als wäre es wirklich geschehen.
Uns viel auf, dass er immer mehr Sachen sammelte und nichts mehr wegschmeißen wollte. Er kaufte sich vieles
doppelt und dreifach (Zeitschriften, CDs, DVDs, Kopien von Bildern in 20 fachen Ausführungen usw.) und versuchte irgendwann das Chaos in hunderten von Faltschachtel zu sortieren die im ganzen Wohnzimmer verteilt waren.
Der Berg wurde immer größer aber er wollte nichts wegwerfen. So verbrachte er von morgens bis abends damit Dinge zu suchen und natürlich musste alles was er nicht mehr fand geklaut worden sein.
Zunächst bekam er Atypische Neuroleptik vom Arzt verschrieben. Doch er war nicht mehr er selbst. Er schlief nur noch und schaute traurig. Die völlige Motivationslosigkeit. Laut dem Arzt muss man bei der Krankheit mit einer Lebenserwartung von nur 4-5 Jahren rechnen. Das einzige was wir tun könnten wäre ihn ruhig zu stellen und das Mittel nach und nach zu erhöhen.
Wir haben das Mittel jedoch sofort wieder abgesetzt. Er blühte wieder auf.
Wie ging ich also mit den “EINBILDUNGEN” um?
Als ich zu Anfang versuchte ihm einmal die Chance zu geben es zu verstehen und ihm in Ruhe erkläre, dass er sich das alles nur einbildet merkte ich dass ich gegen eine Wand laufe. Dies ist allerdings von Person zu Person verschieden!
Bei meinem Vater war das nicht der richtige Weg.
Stattdessen habe ich immer zugehört wenn er sich wieder über eine Einbildung beklagte. Ich war dann sehr liebevoll und sagte, dass das ja sehr schade ist und versuchte dann zu sagen, dass es ja glücklicherweise nichts wichtiges wäre was weg ist und ich ihm alles was ihm fehlt wieder kaufen würde.
Als er kurz davor war eine Nachbarin wegen Diebstahl anzuzeigen!!! erzählte ich ihm, dass diese Nachbarin leider krank sei und darum diese Dinge mitgenommen hat. Weil Sie Medikamente bekommt und nicht weiß was Sie tut und er soll es bitte auf sich beruhen lassen. Da war er ganz verblüfft uns sagte: “Achso ja das wusste ich ja nicht”.
So konnten wir ihn im Zaum halten und er brachte in gewisser Weise Verständnis für seinen imaginären Übeltäter auf.
Weiter habe ich, da sich mein Vater so stark verfolgt fühlte eine neue Wohnung in einer neuen Stadt gesucht.
Eine schöne, helle Neubauwohnung mit neuen Möbeln und ein paar die ihm wichtig waren und die er mitnehmen wollte.
Heim kam für ihn und uns nicht in Frage. Mitte 2016 fand der Umzug statt.
Entgegen vieler gegenteiliger Meinungen zum Umzug von Demenzkranken ….kann eben so ein Umzug gerade bei Psychosen sehr gut sein! Mein Vater hat es sich vor allem gewünscht um von dem Umfeld wegzukommen in dem er sich bedroht fühlt.
Ich habe den Umzug genutzt um einfach den ganzen Müll den er angesammelt hatte wegzuwerfen. Ich habe ihm nur die wichtigsten Sachen mitgenommen aber doch genug, dass er nichts vermissen konnte.
Wichtig bei Demenz ist es eben auch ständig “heimlich” hinter der betroffen Person aufzuräumen und überflüssige Dinge wegzuwerfen. Aber so, dass es die Person nicht merkt! Man sollte nicht “Seine Ordnung” in den Schränken durcheinander bringen aber alles was sich drumherum ansammelt heimlich immer wieder wegschmeißen. So sorgt man dafür, dass er Sachen schneller findet und weniger oft denkt ihm wurde etwas geklaut. Auch die Schreckschusspistolen habe ich alle heimlich entsorgt.
Er nimmt zwar nun auch Werkzeuge die er sich unter das Sofa legt aber ganz kann man das nicht vermeiden.
Von dem bösen Mann der ihn verfolgt sagt er heute nichts mehr. Er ist sehr viel glücklicher in der neuen Umgebung und ist deutlich aufgeblüht.
Ich kann zusammenfassend sagen, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt. Man muss es sanft testen nach und nach. Womit bekomme ich den besten Zugang zu meinem Verwandten. Wie mache ich ihn glücklich?
Wenn man der Psychose keinen Glauben schenkt ist man schnell Teil der Verschwörung und wenn man Pech hat vertraut einem der Verwandte dann nicht mehr. Ich versuche darum ihm zu zeigen, dass ich ihm glaube. Aber ich fördere NICHT die Geschichte indem ich “die Hasen verscheuche” wie oben im Artikel erwähnt. Ich versuche die Einstellung meines Vaters zu der Angst positiv zu verändern oder es ein wenig zu entschärfen und ihn dann mit etwas fröhlichem abzulenken.
Je mehr Beschäftigung und Freude man in das Leben der Demenzkranken bringt desto weniger Raum und Zeit bleibt den Psychosen (nach meiner Erfahrung). Aber es hängt eben immer vom speziellen Fall ab.
Ich fühle mich oft wie ein Geheimagent der dieses Spiel so sinnvoll mitspielen muss, damit mein Vater maximal glücklich ist.
Zu Marillsen:
Deine Horror Visionen. Ich stelle es mir vor wie mein Tinitus der nicht mehr weggeht. Du kannst vielleicht nicht beeinflussen dass Du es siehst bzw. hörst aber vielleicht kannst Du beeinflussen wie Du es bewertest?
Kannst Du Dir zu den Dingen die Du siehst nicht etwas vorstellen was den Dingen den Schrecken nimmt?
Vielleicht sind es Wesen aus einer anderen Dimension die Du beschützen musst oder die auf Dich aufpassen? Möglicherweise sehen sie gruselig aus aber haben mehr Angst als Du?
Immer wenn ich mich vor etwas sehr stark geekelt habe oder Angst hatte habe ich versucht eine Geschichte darum zu entwickeln damit das Ganze seinen Schrecken verliert. Auch kann es helfen, dass Du genau nachliest woran dies alles liegt. Also was passiert mit Deinem Körper wenn Du das siehst usw. Oft ist es auch die Unwissenheit manchen Dingen gegenüber die uns die größte Angst machen.
Und dann ist es sicher auch bei Dir ein Versuch wert Dich mit neuen, fordernden Dingen zu beschäftigen bei denen Du lernen musst. Einerseits geistig wie auch körperlich aktiv sein musst. Denn was man rausfand ist, dass das Gehirn sich deutlich verändert wenn man Sport treibt und neue Dinge (zB eine neue Sprache lernt). Du könntest meiner Meinung nach darauf hoffen, dass sich durch so eine Veränderung diese eine Fehlschaltung in Deinem Gehirn zurückbildet (wie gesagt ich bin kein Arzt aber jemand der sich schon viel mit dem Thema Gehirn beschäftigt hat).
Ich kann Dir wärmstes die TED Vorträge empfehlen. Hier findest Du zu dem Thema des letztes Absatzes vieles was Dich sehr interessieren dürfte. Die TED Vorträge findest Du frei zugänglich im Internet. Hier nur zwei der Beispiele. Nutze die Suchfunktion on der Website um alle Artikel zu Deinem Thema zu finden.
https://www.ted.com/talks/elyn_saks_seeing_mental_illness/transcript?language=de
https://www.ted.com/talks/anil_seth_how_your_brain_hallucinates_your_conscious_reality/transcript
Viel Kraft für Dich und liebe Grüße
Bibi