Der Begriff “Alzheimer” wird häufig mit Orientierungslosigkeit, Gedächtnisverlust und starken Stimmungsschwankungen verbunden. Dabei gibt es auch andere Krankheiten, die sehr ähnliche Symptome aufweisen. Die Frage lautet daher: Wie wahrscheinlich ist es, dass Alzheimer bei der Diagnose mit einer anderen Krankheit verwechselt wird?
Ich bat Frau B. (eine Kunstfigur; Anm. der Redaktion) in ihren persönlichen Ausführungen noch einen Schritt weiter in die Vergangenheit fortzuschreiten. Mir war dabei sehr wohl bewusst, dass das in diesem Fall mit sehr schmerzhaften Erinnerungen verbunden sein könnte. Auf der anderen Seite war mir noch keineswegs klar, was Frau B. wohl gemeint haben könnte, als Sie sagte, dass ihre Schwester das Opfer einer falschen Diagnose gewesen sein musste. Ja richtig, das Opfer einer falschen Diagnose: In diesem Fall ging es ja um die Diagnose Alzheimer.
Die Schwester von Frau B., so waren sich die Ärzte schließlich ziemlich sicher gewesen, hatte die Alzheimer-Krankheit gepackt. Nach der Vervollständigung einzelner ärztlicher Untersuchungen, die vorab der Hausarzt unternommen hatte, bestand bereits der erste Verdacht. Die Schwester von Frau B. wirkte relativ orientierungslos, konnte sich an einzelne Daten nicht mehr richtig erinnern, gerade an solche, die in ihrem Leben immer eine bedeutsame Rolle gespielt hatten.
Einzelne Geburtsdaten von Familienmitgliedern, den Tag der Hochzeit der Schwester, als sie ihren lieben Mann vor guten 45 Jahren heiratete, wie Frau B. mit einem recht sorgevoll dreinblickenden Gesicht erzählte. Aber was noch wesentlich mehr Irritation bei ihr verursacht hätte, war der Umstand, dass ihre Schwester dem Hausarzt gegenüber nicht einmal mehr angeben konnte, an welchem Tag ihr Mann gestorben sei. Sie hatte diesen Tag in seinem ganzen Ablauf in der Vergangenheit gegenüber Frau B. mehrfach bis ins kleinste Detail beschrieben, und dann war dieser Tag bei besagtem Besuch beim Hausarzt förmlich aus ihrem Gedächtnis entschwunden.
Einige neuropsychologische Tests später waren sich die Ärzte also relativ sicher, dass die Schwester von Frau B. an Demenz erkrankt sein müsste. In einem standardisierten Vorgehen waren der Schwester verschiedene Aufgaben zur Orientierung, zum Gedächtnis, zum folgerichtigen Denken, zu den sprachlichen und alltagspraktischen Fähigkeiten und zum räumlichen Vorstellungsvermögen gestellt worden, die sie allesamt nur sehr schlecht lösen konnte.
Nach einem sehr entscheidenden Test lag die Schwester weit unter 20 Punkten, wo bereits 26 Punkte von 30 erzielbaren doch als demenzverdächtig gelten. Was jetzt noch anstand, war der Ausschluss verschiedener möglicher anderer Demenzformen. Die Diagnose lautete am Ende dieser Kette Alzheimer. Die Ärzte begründeten diese für Frau B. und ihre Schwester äußerst niederschmetternde Diagnose damit, dass bei der Schwester jene Symptome vorliegen würden, wie sie doch für Alzheimer an sich charakteristisch seien: Starker Gedächtnisverlust und außerordentlich ausgeprägte Orientierungslosigkeit gekoppelt mit heftigen Stimmungsschwankungen. Daneben die sehr auffällige Eintrübung gewisser sprachlicher und alltagspraktischer Fähigkeiten.
Frau B. konnte bei der Befragung des Hausarztes im Vorfeld außerdem bestätigen, dass diese Symptome schon Jahre zuvor aufgetreten seien. Des Weiteren informierte Frau B. den Hausarzt darüber, dass ihre Schwester in ihrem Leben mehrere Depressionen infolge starker menschlicher Verluste erlitten hätte, wobei eine ganz besonders stark gewesen wäre, was bei einer späteren möglichen Demenz ja einen zusätzlichen bedeutungsvollen Einflussfaktor darstellen kann, wie Frau B. in mehreren Büchern gelesen hätte.
Andere Verwandte der Schwester bestätigten ebenso, dass ihnen ihr Verhalten in letzter Zeit recht seltsam vorgekommen wäre. So erzählte etwa ein etwas fernerer Onkel, dass die Schwester bei einem Besuch seinen Namen ganz plötzlich und für ihn äußerst überraschend beim Essen vergessen hätte.
Und so beobachteten die Ärzte noch eine Zeit lang den Zustand der Schwester, um ihren Befund schließlich zu erhärten. Denn tragischerweise spitzte sich der ganze Gemütszustand bzw. die psychische Verfassung der Schwester in den folgenden sechs Monaten weiter dramatisch zu, so dass sich der ursprüngliche Verdacht der Ärzte als immer realistischer herausstellen sollte.
Andere Demenzformen wie etwa die Demenz mit Lewy-Körperchen kamen indes bei der Schwester eher nicht in Frage, handelt es sich bei dieser Demenzform laut Definition doch um eine Krankheitserscheinung, die neben schwankender Aufmerksamkeit und Wachheit unter anderem wiederkehrenden, detailreichen Halluzinationen unterliegt. Das war bei der Schwester jedoch nicht der Fall. Es musste also Alzheimer sein. Es waren ja schließlich auch mehr als sechs weitere Monate in der Zwischenzeit verstrichen. Und nichts, aber auch nichts hatte sich verbessert. Frau B. resignierte allmählich, die Diagnose der Ärzte musste richtig sein, dachte sie: Alzheimer.
In der Folgezeit wurde die Schwester von Frau B. mit allen möglichen Medikamenten versorgt, aber ihr psychischer Zustand spitzte sich in den folgenden Wochen mehr und mehr zu. Keine Verbesserung also in Sicht, trotz der vielen Medikamente. Wo sich die Schwester anfänglich noch halbwegs zu Recht fand, wenn Frau B. mit ihr beispielsweise spazieren ging, fand sie nun in den meisten Fällen ohne fremde Hilfe nicht mehr den Weg alleine nach Hause zu ihrer Wohnung zurück. Auch häuften sich die starken Schwankungen in ihrer Stimmung, wenn Frau S. sie besuchte, um mit ihrer Schwester die Sache durchzustehen. Mal redete die Schwester kaum, dann wurde sie laut und zuweilen gar aggressiv, an anderen Stellen verstand sie kaum, was die Schwester eigentlich sagen wollte.
Die Sätze ergaben irgendwie immer weniger Sinn. Und die inhaltlichen Sprünge waren groß. In manchen Sätzen sprang die Schwester von Frau B. von der Kindheit und einzelnen Erfahrungen aus der Jugend zu Ereignissen, die wohl aus den letzten paar Jahren stammen mussten, ohne nachvollziehbare Überleitungen. Vermehrte Rätsel-Anteile.
Dann ereignete sich bei Frau B. eines Nachts ein Traum, der einen entscheidenden Wendepunkt in der Krankheitsgeschichte von ihrer Schwester markieren sollte.
Lesen Sie im nächsten Beitrag, was Frau B. träumte, und warum sich die bisherige Diagnose ihrer Schwester schließlich als folgenreicher Irrtum herausstellen sollte.
Quellenangabe zum Titelfoto:
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Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.