Dies ist ein Novum. Im Rahmen unseres Video-Diskussionsformats “Das Demenzei des Monats” haben wir von Monika Lackner, Praxisbegleiterin der Basalen Stimulation® in der Pflege, einen längeren Beitrag zu der Frage erhalten, über welche Erfahrungen Sie im Umgang mit Menschen mit Demenz verfügt, die häufiger schreien und rufen. Deshalb haben wir jetzt für Sie einige Auszüge aus diesem Beitrag.
Ich kann mich noch gut daran erinnern (Marcus Klug; Anm. der Redaktion), als Monika Lackner bei uns im Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) anrief. Sie hatte einen längeren Text zu der Frage verfasst, über welche Erfahrungen Sie im Umgang mit Schreien und Rufen verfügt. Das Besondere daran: Lackner arbeitet als Krankenschwester und Praxisbegleiterin in einer eigenen neu geschaffenen Planstelle, wo sie über genügend Zeit verfügt, Schreipatienten genauer zu beobachten.
Auszüge aus dem Beitrag von Lackner
Als ich 2002 zum ersten Mal mit dem Konzept Basale Stimulation® in der Pflege während meiner Ausbildung zur Krankenschwester in Kontakt kam, überkam mich starke Begeisterung. Spiegelte doch das Konzept in seinen Kernaussagen meine innere Haltung zum Pflegeberuf wider.
Und zwar war diese Weiterbildung deshalb so bereichernd für mich, weil ich Menschen mit Demenz individuell begleiten und näher ergründen wollte, was in diesen Personen vor sich geht.
In diesem Zusammenhang konnte ich auch viele Erfahrungen mit Menschen mit Demenz sammeln, die schreien und rufen. Denn nach dem Examen begann ich in einem psychiatrischen Krankenhaus zu arbeiten und fülle dort mittlerweile eine eigene neu geschaffene Planstelle mit dem Konzept der Basalen Stimulation® in der Pflege aus.
Dazu bin ich völlig freigestellt ohne einen festgesteckten Zeitrahmen für die einzelnen Patienten. Somit habe ich ausreichend Zeit dazu, einzelne Personen mit Demenz ausführlich zu beobachten und einen möglichen Grund für das herausfordernde Verhalten zu suchen.
Ein erstes Fallbeispiel
Eine 74-jährige Patientin, die sehr gehäuft immer wieder mit einer ohrenbetäubenden Stimme “Hilfe, Hilfe” rief, konnte mit beruhigenden Worten erreicht werden. Zusammen mit ihr in der kleinen Nasszelle zur Körperpflege am Morgen, war eine überaus anstrengende Begleitung. Das monotone laute Schreien hinterließ bei mir arge Kopfschmerzen. An einem Morgen fragte ich die Patientin dann doch etwas genervt: “Um Himmels Willen, warum schreien sie denn so?”. Sie antwortete mir in ihrer überlauten Stimme: “Damit ich mich besser spüre!”. Darauf ging ich dann in der Folgezeit vermehrt ein. Spüren im Sinne von Ertasten. Etwa ertasten von Baumrinden im Park oder Pflanzen.
Was löst dieses Schreien und Rufen bei mir aus?
Oftmals frage ich mich, wie mag ein Mensch mit Demenz sein Schreien empfinden? Nimmt er es überhaupt wahr? Ich nehme es sehr wohl wahr. Es bedarf schon einer inneren Ausgeglichenheit, um sich einem schreienden Menschen bewusst gegenüber zu setzen und dessen Situation zu beobachten. Schreien ist nicht gleich Schreien, manche Menschen besitzen eine äußerst laute durchdringende Stimme. Auch erfordert dieses “Aushalten” der Situation ein hohes Maß an Interesse an der schreienden Person sowie eine große Neugierde um die Ursache, warum der Mensch anhaltend laut ist.
Aber auch ich breche an manchen Tagen den Kontakt zu einzelnen Personen nach kurzer Zeit ab, wenn es mir zu viel wird. Ich versuche aber in weiteren Kontakten an Folgetagen erneut auf die Suche zu gehen, was dieser Mensch wohl braucht, von seinem Umfeld, von anderen Personen. Was könnten also seine Bedürfnisse sein?
Ein weiteres Fallbeispiel
Stellen Sie sich eine 84-jährige Frau vor, die alle Personen in ihrem Umfeld ständig mit den Worten “Dann helf mir halt” anrief. Dabei konnte die Frau auf Anfrage nicht benennen, wie sie sich diese Hilfe konkret vorstellte. Bei dieser Frau habe ich versucht, mittels eines kleinen Vibrationsgerätes ‒ ausgehend von den Schultern hin zu den Ellenbogen und weiter zum Handgelenk ‒ das Schreien zu unterbrechen. Dabei legte ich meine freie Hand immer wieder auf die nächste Stelle, hob das Gerät ab und ging wieder zu der Stelle mit der aufgelegten Hand. So konnte die Patientin erahnen, wo als nächstes die Vibration zustande kommen würde.
Ich habe das nur einmal bei der Patientin durchgeführt, da ich eine verstärkte muskuläre Anspannung bei ihr beobachten konnte.
Ein anderer Versuch beinhaltete das Anschlagen von drei Klangschalen, die harmonisch aufeinander abgestimmt waren. Dabei hellte sich das Gesicht der Patientin plötzlich regelrecht auf. Diese Intervention wurde danach wiederholt unterbreitet ‒ mit einer immer wieder ähnlichen Reaktion von Ruhe, Freude und auch Erstaunen über die schöne Tonabfolge.
Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass wir 2011 sieben Schreipatienten auf der Station hatten, und zwar alles Frauen. Das gesamte Team war dabei immens gefordert sowie die restlichen vierzehn anderen Patienten auf der Station. Auch hier versuchte ich die Schreipatienten mit den Klangschalen zu erreichen, hatte dazu alle in einen separaten Therapieraum gefahren.
Bis auf eine Patientin, die nach zehn Minuten wieder aus dem Raum gefahren werden musste, da sich ihr Schreien auch nicht im Ansatz verminderte, waren alle anderen verbal weitgehend ruhig bis auf wenige, einzelne Phasen.
Insgesamt kann ich aus meiner Erfahrung heraus sagen, dass Menschen die schreien oder rufen in einer Spirale des Nichtgehörtwerdens stecken, soll heißen, es beginnt alles aus einer Unterversorgung von Reizen oder aber auch aus einer Reizüberflutung heraus. Ebenso kann ein Schreien und Rufen durch eine Kontaktarmut mit anderen Personen entstehen, auch Ängste und Schmerzen lassen ein solches Verhalten entstehen.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Rosmarie Voegtli / www.visualHunt.com
Monika Lackner arbeitet als als Krankenschwester und Praxisbegleiterin der Basalen Stimulation® in der Pflege. Sie ist außerdem ausgebildete Klangtherapeutin – kbo Klinik Taufkirchen (Vils), Station G1, G2, Huntingtonstation