Aus aktuellem Anlass: Im Rahmen unser neuen Serie “Neuer Expertenstandard: Pflege von Menschen mit Demenz” gibt es vorab zwei Beiträge für Sie, die zum besseren Grundverständnis beitragen, was diesen neuen Standard anbelangt. Denn im Zentrum dieses Standards stehen zum einen die personzentrierte Pflege, zum anderen der Beziehungsaspekt. Beide Aspekte spielen in unserer Neubesprechung des Klassikers “Demenz. Der personzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen” von Tom Kitwood eine wichtige Rolle. Daher dieses Update.
Vorbemerkungen von Marcus Klug
Der Theologe und Pflegewissenschaftler Christian Müller-Hergl ist heute der strategische Kopf hinter dem Beobachtungsverfahren Dementia Care Mapping, das er quasi von England nach Deutschland importiert hat. Das Dementia Care Mapping (DCM) ist ein Beobachtungsverfahren, das speziell für Menschen mit Demenz entwickelt wurde, bei denen Zufriedenheitsbefragungen nicht oder nur bedingt möglich sind. Mit Hilfe des DCMs ist es beispielsweise möglich, die Perspektive und das Wohlbefinden dieser Menschen besser einzuschätzen. So kann mit dem DCM gemessen werden, inwiefern sich bestimmte Maßnahmen – wie zum Beispiel das gemeinsame Kochen oder Musizieren – auf diese Personen auswirken, ob sie ihnen gut tun oder eher kontraproduktiv sind. Dabei liegt der Schwerpunkt der Beobachtungen neben der Kommunikation auf dem Verhalten von Menschen mit Demenz.
Aber nicht nur das: Neben der genaueren Erfassung des Wohlbefindens einzelner Klienten geht es auch darum, genauer zu beobachten und zu hinterfragen, wie es um die Beziehungsqualität in der professionellen Pflege steht: Wie es Pflegepersonen und Pflegeeinrichtungen gelingt, Menschen mit Demenz ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie sich gut aufgehoben fühlen.
Folglich kann über DCM auch genauer erfasst werden, wo es möglicherweise Unstimmigkeiten und Widersprüche auf diesen Ebenen gibt, wo beispielsweise die Kommunikation zwischen Pflegenden und Klienten oder auch zwischen Führungspersonen und Helfern Probleme aufweist.
Der Hintergrund zu diesem Beobachtungsverfahren bildet die Theorie von Tom Kitwood und der Bradford Dementia Group. Kitwood war Sozialpsychologe und Psychogerontolge. Er entwickelte in den Jahren von 1987 bis 1995 als Reaktion auf eine eindimensionale, von den Naturwissenschaften und Medizin geprägte Sozialpsychologie und Pflegekultur die Theorie des personzentrierten Ansatzes.
Die zentrale Aussage dieser Theorie lautet: Im Kern geht es bei Demenz um das Personsein des Menschen. Dies gilt nicht nur für Menschen mit Demenz, sondern auch für die Betreuenden und Pflegenden, die Therapeuten und die Mediziner. Neben dieser Theorie und der “weichen Betrachtungsweise” entwickelte Kitwood zusammen mit der Bradford Dementia Group ebenso ein “hartes Instrument”, und zwar das Dementia Care Mapping-Beobachtungsverfahren.
Christian Müller-Hergl interessierte sich zu dieser Zeit gerade für den ethischen und anthropologischen Ansatz im Durchdenken von Demenz, der sich stark von der allzu eindimensionalen medizinisch-neurologischen Betrachtungsweise von Demenz unterschied. Das war in den 1990-er Jahren.
So schreibt er über seine Interessen zu der damaligen Zeit und seine persönliche Begegnung mit Kitwood folgendes: Mitte der 1990-er Jahre war ich mit dem Aufbau eines neuen Gerontopsychiatrie-Lehrgangs am Meinwerk-Institut in Paderborn beschäftigt. Hierbei stellte sich die Frage, wie man eigentlich evaluieren könne, ob die verschiedenen Interventionen einen erkennbaren Effekt für Menschen mit Demenz haben. Mehr durch Zufall stieß ich auf einen Sammelband des NHS (Nationaler Gesundheitsdienst), in dem unterschiedliche Demenzkonzepte vorgestellt wurden, darunter auch der Ansatz DCM.
Ich entschloss mich, einen Basiskurs in England zu besuchen – ein Krankenhaus in Liverpool. Dort erlebte ich im Kurs Elizabeth Barnett, die mich an Kitwood weiter verwies. Nachfolgend besuchte ich den Advanced-Kurs in Bradford und lernte dort Tom Kitwood kennen.
Inzwischen hatte ich mich mit seinen Schriften vertraut gemacht und stellte eine hohe Verwandtschaft mit den Arbeiten von Prof. Dr. Grond fest – ein deutscher Internist, Gerontologe und Psychotherapeut –, mit dem ich seit Jahren in der Fortbildung zusammen arbeitete. Grond schildert Pflege als Resonanzbeziehung und beschreibt Pflegende als das wichtigste “Medikament” für Menschen mit Demenz. Kitwood lieferte passend zur Botschaft das Instrument – eben dies machte die Attraktivität seines Ansatzes aus: eine weiche Botschaft mit einem harten Instrument – das Dementia Care Mapping-Verfahren.
Kitwood neu gelesen
Das Buch “Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen” wurde erstmalig im Jahr 2000 als deutschsprachige Version von mir herausgegeben. Die englischsprachige Originalfassung trägt den Titel “Dementia Reconsidered” und ist bis heute eines der am meisten gelesenen Fachbücher zu diesem Themenkreis.
In dem Werk gelang es Kitwood, seine wesentlichen Überlegungen der letzten 10 Jahre vor seinem frühen Tod 1998 noch einmal zusammenzufassen. Mit dem Ansatz der “personzentrierten Pflege von Menschen mit Demenz” beeinflusste er nachhaltig Demenzkonzepte auf internationalen, nationalen, fachlichen und organisationsbezogenen Ebenen.
Wie sehr sein Denken die tatsächlichen Rahmenbedingungen und die Praxis der Pflege verändert haben ist dagegen umstritten. Zwar stießen seine Überlegungen eine Vielzahl von Forschungen an, Kernannahmen aber wurden seitens der Forschung kaum aufgegriffen (wie etwa die fünf zentralen psychologischen Befunde).
Kitwood skizzierte zu Lebzeiten fünf Kriterien für das Personsein:
- Bewusstsein,
- Rationalität,
- die Macht zu handeln,
- Moralität und
- das Vermögen, Beziehungen zu knüpfen
Kitwood wirkte und schrieb in einer Zeit, in der die empirische Pflege- und Versorgungsforschung zu Menschen mit Demenz noch nicht sehr viel zu bieten hatte. Daher sind seine Überlegungen oft gewagt, empirisch wenig fundiert und aus eher theoretischen Überlegungen und persönlichen Erfahrungen abgeleitet.
Dennoch gelang es ihm, das empirische Wissen seiner Zeit wo immer möglich zu berücksichtigen. Es ging dann aber weit darüber hinaus und nahm viele Entwicklungen vorweg, die erst in den nächsten 20 Jahren voll zur Entfaltung kamen, darunter das biopsychosoziale Verständnis von Demenz und die Abkehr von einem einseitig medizinisch orientierten Ansatz, ein wertorientiertes Verständnis in Versorgung und Pflege (Personenorientierung), die Vorstellung, Menschen mit Demenz vermehrt Gehör zu schenken und alle Dienstleistungen an ihren Bedürfnissen zu orientieren, sowie eine evidenzbasierte Entwicklung von Diensten anhand der konkreten Befindlichkeiten und Aktivitäten von Menschen mit Demenz (DCM).
Schwer nachvollziehbar bleibt es dagegen weiterhin, dass Kitwood durchaus kompatible und teilweise auch weiterführende Vorstellungen aus der (Umwelt)Gerontologie (z.B. Lawton) und der Verhaltensforschung (Cohen-Mansfield) nicht aufgegriffen hat.
Unter dem Begriff der “Umweltgerontologie” verstehen wir insbesondere die (Wohn-)Umwelt von alten Menschen und die Frage danach, inwieweit diese Umwelt das Verhalten und das Wohlbefinden einer Person beeinflussen. Insbesondere die Arbeiten von Lawton (1983) haben daraus verwiesen, dass die Umwelt mit abnehmender körperlicher und psychischer Funktionstüchtigkeit zu einem unüberwindlichen Hindernis für ältere und hier vor allem hochaltrige Menschen ab dem 85. Lebensjahr werden kann (mit und ohne Demenz). Demgegenüber beschäftigt sich die Pflegewissenschaftlerin Cohen-Mansfield insbesondere mit der Frage, wie einzelne problematische Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz durch das Pflegeumfeld weiter verstärkt werden können und welche Faktoren dazu beitragen, diese Verhaltensweisen besser in den Griff zu bekommen.
Übergreifend machte Kitwood mit seiner Theorie den Pflegenden (ob Angehörigen oder Professionellen) Hoffnung, dass ihre Arbeit und Zuwendung einen Unterschied für Menschen mit Demenz bedeutet; dass Menschen in ihrer Demenz eine Entwicklung durchmachen und diese durchaus beeinflussbar ist – dass demnächst ein therapeutischer Nihilismus unangebracht und kontraproduktiv ist; dass Menschen mit Demenz etwas beizutragen haben, von dem auch Pflegende einen Gewinn davontragen.
Das bedeutet, dass die Hoffnung bei Menschen mit Demenz mit der Diagnose nicht verloren sein muss. Und das bedeutet, dass Interventionen in der Pflege einen positiven Effekt nach sich ziehen können. Allerdings sei dabei auch angemerkt, dass es unter Umständen aus Forschungsperspektive schwierig sein kann, diesen Effekt auch tatsächlich nachzuweisen, vor allem dann, wenn die Menschen, die man pflegt, sich zunehmend weniger auf der verbalen Ebene mitteilen können, beispielsweise im fortgeschrittenen Stadium einer Alzheimer-Demenz.
Lesen Sie im nächsten Teil, wie aus dem damaligen medizinischen Standardparadigma ein mehr ganzheitliches Verständnis von Demenz hervorgegangen ist, also ein biopsychosoziales Modell, und inwieweit Kitwood dieses Verständnis mit seinem Werk mitgeprägt hat.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Randon Pderson / www.flickr.com
Christian Müller-Hergl ist Philosoph und Theologe. Er arbeitet u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Dialog- und Transferzentrum (DZD) an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Demenz und Gerontopsychiatrie. Er ist zudem strategischer Leiter und Trainer für Dementia Care Mapping-Verfahren, eine ursprünglich von Tom Kitwood und Kathleen Bredin in England entwickeltes personenzentriertes Evaluations- und Beobachtungsverfahren. Kontakt: Christian.Mueller-Hergl@uni-wh.de.
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.