Querdenksymposium: Wie dement ist unsere Gesellschaft?

Verrückte Zugänge schaffen oder Ideen zu folgender Frage sammeln: “Wie dement ist unsere Gesellschaft?”. So geschehen beim zweiten Querdenksymposium der Caritas Pflege, das am 21. April 2016 in Wien stattgefunden hat. Ab sofort gibt es dazu eine empfehlenswerte multimediale Dokumentation mit zahlreichen Impulsen, die kostenfrei abgerufen werden kann.

“Wie dement ist unsere Gesellschaft – wie ist unsere Gesellschaft dement?”, so lautete die Frage auf dem zweiten Querdenksymposium, welches am 21. April 2016 in Wien stattgefunden hat. Die Frage wurde aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen; Quergedanken und Assoziationen waren entsprechend dem Motto der Veranstaltung hochwillkommen. Einen Tag lang wurde die Frage aus Sicht der Politik, der Forschung, der Medizin, der Pflege und der Pharmaindustrie mit Querbezügen aufgegriffen. Zu den Querdenkern gehörten unter anderem der Molekularbiologe Konrad Beyreuther von der Universität Heidelberg mit seinem Vortrag “Ohne Alzheimer keine Weisheit. Vom angemessenen Umgang mit Alzheimer” sowie der Pflegewissenschaftler Detlef Rüsing – Leiter des Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD)  an der Universität Witten/Herdecke – mit seinem Impulsvortrag “Mit neuem Wissen der Pflege schaden? Über das schlechte Gewissen eines gewissenhaft Lehrenden”.

Mit “Weisheit” verbindet Konrad Beyreuther den Unterschied zwischen fluider und kristalliner Intelligenz. In der Psychologie sind fluide und kristalline Intelligenz Faktoren der generellen Intelligenz, die auf Raymond Cattell zurückgehen. Die fluide Intelligenz befähigt Menschen dazu, Informationen für kurze Zeit zu speichern und dementsprechend auch schnell zu entscheiden. Die fluide Intelligenz erreicht ihren Höhepunkt mit Mitte 20, danach setzt ein langsamer aber stetiger Abwärtstrend ein, der bei Menschen mit Demenz noch stärker ausgeprägt ist. Alte Menschen punkten hingegen mit Erfahrung. Sie wissen in der Regel mehr und können ihre Gedanken mehr vernetzen, was wir in Anlehnung an Beyreuther als “weise” bezeichnen können.

Konrad Beyreuther: Ohne Alzheimer keine Weisheit

Für Beyreuther liegen die Wurzeln von Alzheimer in der menschlichen Weisheit. Der weise Alte ist dementsprechend auch jener Mensch, dessen Schnelligkeit im Denken nachlässt, während junge Menschen vor allem das schnelle Denken schätzen, da es hier insbesondere um die Ausschüttung von Dopamin geht – der Botenstoff zum Glück. Wer nicht mehr so schnell entscheiden kann, muss im Umkehrschluss somit mehr weise sein.

Das gilt auch für für Menschen mit Demenz. Das Gehirn nimmt an Schnelligkeit im Treffen von Entscheidungen ab und verliert an Gedächtnisbildung. Bei Alzheimer umfasst der Krankheitsverlauf und damit auch die Abnahme der Gedächtnisbildung im Durchschnitt neun Jahre: drei Jahre mild, drei Jahre mittelschwer, drei Jahre schwer. In den ersten sechs Jahren können die PatientInnen noch eine hohe Lebensqualität haben, so Beyreuther. Neueste Forschungsstudien zeigen aber auch, dass sich das Tempo des Verfalls durch präventive Maßnahmen deutlich verlangsamen lässt. Wichtig ist dabei vor allem Bewegungs- und Gehirntraining und Überwachung von Stoffwechsel- und vaskulären Risikofaktoren durch regelmäßige Blutproben und andere Maßnahmen. Forschungen bestätigen außerdem, dass sowohl das emotionale als auch das musikalische Gedächtnis noch sehr lange erhalten bleiben, während die kognitiven Fähigkeiten stark nachlassen.

Die große Herausforderung, so Beyreuther am Ende seines Vortrages, besteht darin, den PatientInnen die Türen zur “Scheune ihrer Erinnerungen” zu öffnen. Er bleibt optimistisch in Bezug auf ein “Altern ohne Alzheimer Krankheit”, denn die Zahl der Neuerkrankungen ist in den vergangenen 20 Jahren um etwa ein Viertel zurückgegangen, was im Gegensatz zu der recht verbreiteten und populären Prognose steht, dass sich die Anzahl von Menschen mit Demenz bis zum Jahr 2050 weltweit verdoppeln würde.

Detlef Rüsing: Mit neuem Wissen der Pflege schaden?

Der Titel des Impulsvortrags von Detlef Rüsing birgt zunächst eine Überraschung in sich: Mit neuem Wissen der Pflege schaden? Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dass trotz zunehmender Forschung und Leitlinien die Ergebnisse aus der Versorgungsforschung nur marginal in die Praxis einziehen. Das erhöht, so Rüsing, gewissermaßen das schlechte Gewissen der professionell Pflegenden: Denn Sie wissen an sich immer mehr, was man eigentlich unternehmen müsste, um die Qualität in der Pflege von Menschen mit Demenz zu verbessern, wenden dieses Wissen aber in den meisten Fällen paradoxerweise nicht an, mit dem häufigen Hinweis auf wenig Zeit und knappe Ressourcen. Rüsing adressiert dieses Problem dann auch in seinem Vortrag an das Publikum und fragt: “Oder haben Sie in der Praxis Zeit für eine 30-minütige Handmassage, die erwiesenermaßen aggressives Verhalten reduzieren kann?”.

Wir wissen nun – wissenschaftlich (zugegebenermaßen nicht immer sauber!) überprüft, so Rüsing – was vielen Menschen mit einer Demenz ein Leben in Würde und mit Anteilen von Wohlbefinden und Lebensqualität trotz Erkrankung ermöglichen könnte. Der nächste Schritt ist der Transfer dieses Wissens in die Pädagogik und Praxis. Was aber, wenn aufgrund eines Mangels an finanziellen und personellen Ressourcen eine solche Pflege nicht möglich scheint? Was sagt man als Lehrender einem engagiert Pflegenden, der mit – nicht gespielter Leidensmiene – berichtet, dass er drei Personen am Tisch gleichzeitig das Essen reicht? Was sage ich als Lehrender einer Person, die berichtet, dass Fallarbeit maximal am Telefon nach Feierabend mit einer Kollegin bzw. einem Kollegen stattfinden kann und er dieses auch regelmäßig macht? Ist es ethisch vertretbar, wissenschaftlich fundiert Lösungswege aufzuzeigen, die in der Praxis aufgrund regulärer (nicht ungesetzlicher!) Rahmenbedingungen nicht durchführbar sind?

Für die Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz sind diese Fragen für die Zukunft allesamt von entscheidender Bedeutung. Was wäre, so der Traum von Rüsing, wenn der Impfstoff Beziehung endlich flächendeckend in der Pflege eingesetzt werden würde?

Die multimediale Dokumentation: Wie dement ist unsere Gesellschaft?

Die multimediale Dokumentation zu dem zweiten Querdenksymposium in Wien finden Sie unter folgender Online-Quelle: http://www.caritas-pflege.at/aktuell/querdenken-2016/.

Alle Vorträge sind sowohl in der Form von Abstracts und Präsentationen als auch als Tondokumente abrufbar. Zudem hat die Illustratorin Nina Dietrich Life-Zeichnungen (“Graphic Recording”) zu allen Vorträgen als Zusammenfassungen angefertigt, die ebenfalls frei zugänglich sind.

Hier der Link dazu: http://www.caritas-pflege.at/fileadmin/storage/wien/hilfe-angebote/pflege/aktuell/querdenken_2016/querdenken-2016-graphic-recording-nina-dietrich.pdf.

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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