Organisation und Langeweile: Eine ungewöhnliche Betrachtung

Für gewöhnlich käme wohl kaum eine Person auf die Idee, dass Langeweile eine Störung der Ordnung von Organisationen darstellen könnte. Der Verfasser dieses Beitrags ist da anderer Ansicht: die Langeweile von Menschen mit Demenz wird in Pflegeeinrichtungen zum Problem, wenn sich unerwünschte Verhaltensabweichungen nicht mehr durch standardisierte Aktivitäten ausgleichen lassen.

Dieser Beitrag beinhaltet kleine soziologische Beobachtungen zur Beziehung von Organisation und Langeweile in der Pflege von Personen mit Demenz. Auch für Praktiker sind diese kleinen soziologischen Beobachtungen insofern von Relevanz, als dass hier der Versuch unternommen wird, die Langeweile von Menschen mit Demenz als gelegentliche außerordentliche Störung zu begreifen. Professionelle Pflegekräfte sollten sich mit dieser Störung ausgiebiger beschäftigen, wenn Anreizsysteme, Aktivitäten und Verhalten über einen längeren Zeitraum nicht mehr zur Deckung gebracht werden können. Was das bedeutet?

Es gibt in einzelnen Pflegeeinrichtungen wie Altenheimen gewisse standardisierte Programme und Aktivitäten für pflegebedürftige Menschen, die auch dazu dienen, für ausreichend physische und emotionale Anreize zu sorgen, sodass die Ordnung in Pflegeeinrichtungen aufrechterhalten werden kann. Der Soziologe Dirk Baecker schreibt dazu: “Störung heißt, die mögliche Negation einzelner Elemente im System durch das System oder durch seine Umwelt so vorwegzunehmen, dass ihr produktiv begegnet werden kann.” (Baecker 2012: 7)

Langeweile als Störung

Um die Folgen von andauernder Langeweile im Sinne von möglichen abweichenden negativen Verhaltensweisen wie Rückzug oder Aggressivität bereits im Vorfeld zu vermeiden, werden inklusive und systemstabilisierende Maßnahmen getroffen. Ein Bewegungsprogramm dient beispielsweise in diesem Zusammenhang dazu, nicht gewünschte und abweichende Verhaltensweisen von einzelnen pflegebedürftigen Personen durch ausreichend Bewegung zu vermeiden. Jetzt werden Sie vielleicht einwenden: “Aber Bewegung ist doch wichtig!” Sicherlich. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite: Wenn eine Pflegeeinrichtung über nur relativ wenig Mitarbeiter verfügt, ist es meistens schwierig, genügend Zeit für die Frage aufzuwenden, wie Anreizsysteme auf individueller Ebene für Menschen mit Demenz aussehen könnten, denen häufiger langweilig ist, die sich jedoch weder für das Bewegungs- noch für das Singprogramm interessieren.

Langeweile stellt eine Störung von Ordnung dar, wenn keine adäquaten Antworten und Strategien auf abweichende und nicht gewünschte Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz gefunden werden. Ein kleines Fallbeispiel dazu: Ein älterer Herr, nennen wir ihn Herrn K., leidet unter einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung und ist zugleich Bewohner eines Pflegeheims. Früher ging er verschiedenen Hobbys nach und nahm auch regelmäßig an Gruppenaktivitäten teil. Mittlerweile wirkt er häufiger abwesend und verlässt den Saal, wenn mal wieder eine Gruppenaktivität wie gemeinsames Singen auf dem Programm steht.

“Störung heißt, die mögliche Negation einzelner Elemente im System durch das System oder durch seine Umwelt so vorwegzunehmen, dass ihr produktiv begegnet werden kann.” – Dirk Baecker, Soziologe

Die Pflegenden interpretieren diesen Rückzug als depressives Verhalten. Wir wissen aber aus der Forschung, dass dieses Rückzugsverhalten – je nach Schweregrad einer Demenz – durchaus als “normal” beurteilt werden kann. Und noch etwas: Menschen mit einer Demenzerkrankung sind in der Regel alt. Die Demenz wird sich verschlimmern, der Kontakt wird immer schwieriger und die Kräfte werden nachlassen. Diese mit den Betroffenen auszuhalten, ohne in blinden Aktionismus zu verfallen, ist sicher eine der schwierigsten Aufgaben für Pflegende in Organisationen.

Ein letzter Punkt: In unserem Fallbeispiel hat Herr K. immer gerne an Gruppenaktivitäten teilgenommen. Es könnte aber auch sein, dass er in seinem bisherigen Leben nur selten an Gruppenaktivitäten in seiner Freizeit teilgenommen hat und eher kein Freund davon ist. Werden Herrn K. dann trotzdem – sobald er in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist –, Gruppenaktivitäten aufgezwungen, kann abweichendes Verhalten wie Rückzug aufgrund von Langeweile auch als Protest interpretiert werden.

Die Herausforderung: Mehr Individualität trotz knapper Ressourcen

Die Frage stellt sich am Ende dieser kleinen soziologischen Beobachtungen, wie man trotz Personal- und Zeitmangel auf der Ebene der Organisation ein Beschäftigungsprogramm entwickeln kann, das neben standardisieren Elementen auch mehr individuell gestaltbare Aktivitäten zulässt. Da sind sicherlich auch Ihre persönlichen Ideen und Impulse gefragt!

So hat beispielsweise die Implementierung des Programms “enriching opportunities” (etwa: Gelegenheiten bereichern) in englischen Pflegeeinrichtungen dazu geführt, dass die Bandbreite von Aktivitäten stieg (Brooker 2007): Die Bewohner verbrachten mehr Zeit mit individuellen Aktivitäten und wiesen eine größere Bandbreite von Aktivitäten als zuvor auf. Dies galt für alle Bewohner unabhängig von Diagnose und Grad der Abhängigkeit. Ausmaß und Grad der Depression halbierten sich während dieser Intervention.

Sie sehen an diesem Beispiel, dass es möglich ist, auch mit knappen Ressourcen neben standardisierten Programmen zur Aktivierung, die Bandbreite durch einzelne individuelle Elemente zu erhöhen. Was Sie dafür allerdings als Organisation benötigen: Mehr Geduld und Zeit, wenn es um die Implementierung geht. Das verbinde ich mit Pflegequalität im nicht betriebswirtschaftlichen Sinne.

Weiterführende Literatur:

  • Baecker, D. (2012): Organisation und Störung. Berlin: Suhrkamp Verlag.
  • Brooker, DJ.; Wooley, RJ (2007): Enriching opportunities for people living with dementia in nursing homes: An evaluation of a multi-level activity-based model of care. In: Aging & Mental Health 11(4), p. 361-370. Siehe in diesem Zusammenhang auch folgende Online-Quelle: Enriching Opportunities.

Quellenangabe zum Titelfoto:

Foto: Craig Sunter / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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