Wie sieht die Versorgungssituation während der Nacht in deutschen Pflegeheimen aus? Nachtdienstler sind im Durchschnitt für 52 Bewohner zuständig, so das Ergebnis der bisher größten Studie zur Belastung von Pflegekräften in deutschen Altenheimen der Universität Witten/Herdecke.
Stellen Sie sich vor, Sie würden als professionelle Pflegekraft im Nachtdienst arbeiten und Sie hätten die Verantwortung für 52 Bewohner, darunter auch zahlreiche Personen mit Demenz. Was glauben Sie, wie verhält es sich mit dieser Arbeitsbelastung? Ist eine derartige Belastung überhaupt zumutbar? Wann sollten beispielsweise Pausen eingelegt werden? Und kann man eine derartige Belastung gar als bereichernd und positiv empfinden?
Ich persönlich habe jedenfalls enorm viel Respekt vor Menschen, die sich einer solchen Herausforderung stellen. Denn im Alltag vergessen wir viel zu häufig, was Menschen im Bereich der Versorgung vielfach leisten. Die Pflegearbeit während der Nacht ist dafür durchaus ein repräsentatives Beispiel. Zu dieser Versorgungssituation haben die beiden Pflegewissenschaftler Prof. Christel Bienstein und Dr. Jörg große Schlarmann von der Universität Witten/Herdecke aktuell die Studie “Die Nacht in deutschen Pflegeheimen” vorgelegt, deren Ergebnisse in der Form eines Berichts kostenfrei im Internet bezogen werden können. Hier der Link zu diesem Bericht.
Die Versorgungssituation während der Nacht
Bienstein und Schlarmann haben die Versorgungssituation während der Nacht genauer unter die Lupe genommen. 276 Personen konnten insgesamt in der Studie aufgenommen werden, die auf Online-Befragungen basiert. Nachtdienstler sind für durchschnittlich 51,6 Bewohner verantwortlich, und sie versorgen durchschnittlich 40,3 Bewohner pro Nacht. Von diesen leiden durchschnittlich 27,1 Bewohner an einer Form von Demenz.
Die Situation während der Nachtdienste in den Pflegeberufen ist bislang nur zu einem geringen Teil Gegenstand von Forschungsprojekten, und die vorhandenen internationalen Studien konzentrieren sich hauptsächlich auf die Nachtwache in Krankenhäusern. Dementsprechend konnte mit dieser Forschungsstudie eine Lücke geschlossen werden und zum Teil erstaunliche Ergebnisse ans Tageslicht befördert werden.
“Wer für 52 Personen in der Nacht zuständig ist, muss damit rechnen, dass – so wie es in Altenheimen meist aussieht – hinter 26 Türen jederzeit jemand beim Weg zur Toilette stürzen kann”, ordnet Prof. Christel Bienstein, die Leiterin der Studie und des Departments Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke, die Ergebnisse ein. “Bei 52 Personen bleiben dem oder der Pflegenden rein rechnerisch zwölf Minuten für jeden Patienten pro Nacht für Inkontinenzversorgung, Lagerung oder Verabreichung von Medikamenten. Das ist Stress pur!”, macht Bienstein klar.
Umso erstaunlicher empfand ich auf der anderen Seite den Befund, dass in den Befragungen auch positive Aspekte an dieser Versorgungssituation genannt wurden. Als positive Aspekte nennen die Befragten beispielsweise die Möglichkeiten, alleine Entscheidungen treffen zu können und sich Zeiten selbst einzuteilen, sowie den engen Kontakt zu Bewohnern. Das zeigt auch, dass hohe Belastung bis zu einer gewissen Grenze stark von der individuellen Empfindung abhängig ist.
Was für die eine Person eine echte Belastung darstellt, kann für eine andere Person – zumindest für eine gewisse Zeit – auch ein Ansporn darstellen. Gleichwohl fällt die Belastung während der Nacht in den Pflegeheimen insgesamt signifikant zu hoch aus, da zu wenig Pflegekräfte für zu viele Personen Verantwortung tragen, um diese Versorgungssituation dauerhaft zu meistern. So sollte beispielsweise jede Einrichtung einen hochqualifizierten Hintergrunddienst bereitstellen, der jederzeit beratend und unterstützend eingreifen kann, wenn die Situation nicht mehr von einer verantwortlichen Person in den Griff zu bekommen ist, wie die beiden Forscher auch auf der Basis von Rückmeldungen ihrer Probanden in einen separierten Forderungskatalog darlegen.
Warum also machen Pflegende dennoch Nachtdienst?
Zum einen, weil sie sich den Bewohnern und Bewohnerinnen gegenüber verantwortlich fühlen. Auch finanzielle Gründe und/oder die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden genannt. Die Befragten schätzen auch, dass sich die Bewohner in der Nacht mehr öffnen und sie deshalb ein besseres Verhältnis zu ihnen aufbauen könnten. Auch das selbständige Arbeiten geben 38 % von ihnen an und 17 % nennen die größere Ruhe in der Nacht verglichen mit dem Tagdienst, als positive Erfahrung im Nachtdienst.
Die Forscher haben die Rückmeldungen in einen Forderungskatalog münden lassen:
- In der Nacht muss gewährleistet sein, dass mindestens zwei bis drei Pflegende für 60 BewohnerInnen anwesend sind
- Verantwortliche Pflegefachpersonen müssen über die beste Qualifikation verfügen, da sie schnell und alleine Situationen einschätzen und passgenaue Versorgungsmaßnahmen einleiten können müssen
- Jede Einrichtung muss einen hochqualifizierten Hintergrunddienst bereitstellen, der jederzeit beratend und unterstützend eingreifen kann
- Notfallleitlinien, ein erreichbarer ärztlicher Hintergrunddienst und eine stetig lieferbereite Apotheke stellen eine erforderliche Grundlage dar
- Es muss gewährleistet sein, dass Nachtpflegende mindestens pro Nacht eine 30-minütige Pause haben, die sie ohne Störungen verbringen können
- Mehr als vier Nächte hintereinander sollten Pflegende nicht die Verantwortung für die BewohnerInnen übernehmen
- Es muss sichergestellt werden, dass Pflegende des Nachtdienstes an Fortbildungen teilnehmen können, ohne ihre Schlafzeit reduzieren zu müssen
Fazit
Wer sich so wie ich im besonderen Maße für Arbeits- und Stressforschung interessiert, bekommt in diesem Fall eine Studie aus der Pflege geboten, die eine extremere Versorgungssituation und deren Rahmenbedingungen genauer hinterfragt. Tatsächlich wissen wir auch aus anderen Studien aus der Pflegewissenschaft (etwa aus der NEXT-Studie), dass der Personalschlüssel gerade hierzulande in der Pflege häufig deutlich zu niedrig ausfällt: Im Durchschnitt ist in den Pflegeheimen eine professionelle Pflegekraft für zehn Personen zuständig. Auf der anderen Seite schließt diese Studie eine wichtige Lücke, denn sie wartet mit nützlichen Erkenntnissen zu einem Versorgungssetting auf, das so bis dato noch nicht weiter erforscht worden ist.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Quelle: wirkipedia.org
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.