Das kleine ABC der Emotionen: Vom Behaviorismus zu den Emotionen_Teil 2

Gefühle begleiten, ja prägen die gesamte demenzielle Erkrankung. Bei den Betroffenen nimmt die Intensität mancher Gefühle deutlich zu, während es für Pflegende und Angehörige nicht immer einfach ist, die Gefühle richtig zu deuten. Ein Blick in die Emotionsforschung kann dabei helfen, besser zu verstehen, auf welche Weise Emotionen auf unser Gehirn einwirken.

In den 1960iger Jahren kam es zu einer entscheidenden Wende in der modernen Geistesforschung, die noch bis heute nachhalt. Es bildete sich die Kognitionswissenschaft in der Forschung aus, die sich mit der Natur unseres Geistes befasste. In der Kognitionswissenschaft wurde der Geist wie ein Computer aufgefasst, und die Forscher interessierten sich für die Frage, wie Menschen und Maschinen logische Probleme lösen oder Schach spielen. Die Frage, wie Emotionen in unserem Gehirn entstehen, spielte indes keine Rolle. Die Kognitionsforscher fragten nicht danach, wie wir Emotionen wie Wut und Trauer besser interpretieren können, wenn sie bei Menschen mit Demenz in Erscheinung treten. Wenn überhaupt in der Kognitionswissenschaft nach Emotionen gefragt wurde, dann wurden die Emotionen “zu kalten kognitiven Prozessen umdefiniert”, so wie das Joseph LeDoux in seinem Buch “Das Netz der Gefühle” formuliert.

Emotion und Kognition

Emotionen waren also – wenn überhaupt – die Anhängsel unseres Verstandes: der Verstand thronte recht einsam auf beinahe allen Gebieten unseres Geistes. Bis heute hat sich die Emotionsforschung zwar gewandelt, jedoch wird der Kognition in unserer Gesellschaft nach wie vor ein sehr hoher Stellenwert beigemessen. Der Begriff der “Kognition” bezieht sich auf solche Bereiche in unserem Gehirn, die für logisches Denken, Planen, Handeln und Entscheiden sowie für die Gedächtnisbildung zuständig sind. Wichtige Hirnareale, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, sind u. a. der Neocortex und der Hippokampus.

Hippokampus und andere Hirnareale

Der Neocortex oder auch präfrontale Kortex ist der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde. Mit dem Neocortex werden grundsätzlich “höhere” kognitive Leistungen wie Denken, Planen und Entscheidungsfindung assoziiert. Der Hippokampus zählt dagegen zu den ältesten Strukturen des Gehirns und bedeutet aus dem Altgriechischen übersetzt “Seepferdchen”. Im Hippokampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Art zusammen. Der Hippokampus ist vor allem wichtig für die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten, für die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Bemerkenswerterweise werden bei einer solchen Demenzform wie Alzheimer die Funktionsweise dieser beiden Areale immer weiter eingeschränkt: Planen, Entscheiden und Organisieren funktionieren immer weniger (Neokortex); kurzfristige Gedächtnisinhalte können nicht mehr abgerufen werden (Hippokampus).

“Das Leben ist nichts als Erinnerung, außer dem gegenwärtigen Moment, der so rasch an einem vorbeigeht, dass man sein Gehen kaum mitbekommt.” – Tennessee Williams

Aber wie steht es um die Emotionen? Im Rückblick auf die kognitive Wende können wir aus heutiger Sicht festhalten, dass eine wesentliche Gemeinsamkeit im Vergleich zwischen dem emotionalen als auch dem kognitiven Geist existiert. In der Forschung wird nämlich davon ausgegangen, dass sowohl die Kognition als auch die Emotion unbewusst zu operieren scheint. Das heißt, dass immer nur ein Teil von jenen Prozessen in unser Bewusstsein tritt, die sich permanent in unserem Gehirn abspielen. Und hierbei ist es zunächst überhaupt nicht wichtig, ob wir von kognitiven oder emotionalen Aspekten unseres Geistes sprechen.

Im weiteren Verlauf, so schreibt das LeDoux in seinem Buch “Das Netz der Gefühle”, befassten sich die Kognitionswissenschaftler dementsprechend nicht mit den bewussten Inhalten unseres Geistes, sondern eher mit den unbewussten Teilen. Bedingt durch dieses Forschungsinteresse wurden die bewussten Teile des Erlebens von Emotionen somit weitgehend ausgeschlossen. Wenn wir bei einer Demenz Zorn und Aggression empfinden, wäre das bereits bewusst und somit für die damalige Forschung unerheblich gewesen. Aber gerade Emotionen sind ja im Alltag stark mit bewussten Inhalten verknüpft; wir reagieren auf bestimmte Situationen mit bestimmten Emotionen; wobei die Intensität, Dauer und Komplexität dieser Reaktionen individuell variieren.

Emotion und Kognition – kaum vorstellbar: Die Verarbeitung von Emotionen funktioniert in etwa wie die Operationen eines Computers

Wenn wir noch nichts gegessen haben, verspüren wir eine Leere in unserem Magen und bekommen Hunger. Oder wenn ein geliebter Mensch von uns gegangen ist, sind wir traurig und müssen den Verlust erst einmal verarbeiten. Und obwohl beide Emotionszustände einander scheinbar ähneln, gibt es doch zugleich starke Unterschiede. In der Emotionsforschung spricht man in diesem Zusammenhang beispielsweise von Emotionen als ein Affekt. Der Begriff betrifft eine kurzfristige emotionale Reaktion, die auch mit einem Verlust der Handlungskontrolle einhergehen kann. Nicht befriedigter Hunger kann ungewollt in Aggression übergehen. Trauer als ein Ritual mag nur wenig oder keinen Affekt beinhalten. Auf der anderen Seite treten bei Menschen mit Demenz Affekte häufiger in Erscheinung. So kommt es teilweise zu nicht kontrollierbaren heftigen Gefühlsausbrüchen.

Wieso fällt es Menschen mit Demenz wesentlich schwerer, Gefühle zu kontrollieren? Eine mögliche wissenschaftliche Erklärung zu dieser Frage hängt mit den Spiegelneuronen zusammen. Menschen passen ihr Verhalten an die Umwelt an; dies gilt logischerweise zum Teil auch für Emotionen. Wenn der Abgleich mit den Gefühlsregungen von anderen Personen im eigenen Umfeld jedoch nicht mehr richtig funktioniert (etwa im familiären Kontext), kommt es zu kleineren und größeren emotionalen Aussetzern. Dies ist beispielsweise bei Menschen mit Demenz verstärkt der Fall, die an einer frontotemporalen Demenz leiden.

Bei dieser Demenzform sind die Spiegelneuronen direkt betroffen. Spiegelneuronen sind ein Resonanzsystem im Gehirn, das Gefühle und Stimmungen anderer Menschen beim Empfänger zum Erklingen bringt. Wenn dieses System nicht mehr richtig funktioniert, gelingt es den betroffenen Personen somit auch nicht mehr richtig, passend auf die Emotionen anderer Menschen zu reagieren. Da bei der frontotemporalen Demenz dieses System direkt betroffen ist, sagt man auch vielen Betroffenen nach, dass sie sich “auffällig” und “unsozial” verhalten würden.

Die evolutionäre Geschichte hinter den Emotionen

In der heutigen Emotionsforschung ist die kognitive Betrachtung geistiger Prozesse zwar immer noch von immenser Bedeutung, auf der anderen Seite hat sich aber auch – u. a. bedingt durch die Neurobiologie – eine parallele Vorstellung in der Forschung herauskristallisiert, in dem der menschliche Geist nicht mehr so stark als eine sorgfältig gestaltete Maschine betrachtet wird, sondern mehr als ein biologisches Organ mit einer evolutionären Geschichte.

Entscheidend ist bei dem Thema Emotionen außerdem noch, dass Emotionen im Gegensatz zur Kognition nicht unabhängig von unserem Körper denkbar sind. Bevor wir eine bestimmte Handlung umsetzen, können wir vorab mental durchspielen, wie wir diese Handlung später am besten umsetzen können. Für Spitzensportler ist das beispielsweise vor einem Wettkampf eine sehr wichtige Übung. Dabei sind die mentalen Bilder vielfältig umgestaltbar, und zwar zunächst ganz unabhängig von körperlichen Reaktionen. Doch im Falle der Emotion ist die körperliche Reaktion ein zentraler Bestandteil des gesamten emotionalen Prozesses. Wir können uns Emotionen kaum ohne körperliche Ausdrucksformen denken, etwa wenn wir sehen, wie sich Menschen mit Demenz beim Tanzen freuen.

Joseph LeDoux verweist in seinem Buch “Das Netz der Gefühle” zudem auf den Ursprung der Emotionen. Emotionen, so schreibt er, haben sich in der Evolutionsgeschichte als verhaltensmäßige und physiologische Spezialisierungen herausgebildet, die es uns erlauben, in einer feindlichen Umwelt zu überleben. Abschließend eine Analogie dazu: Die Umwelt prägt auch die Menschen, die von einer Demenz betroffen sind. So gesehen ist ihr Körper mehr und mehr der Spiegel ihrer Emotionen, wenn diese über Sprache nicht mehr klar und nuancierter artikuliert werden können. Ich betrachte negative Emotionen wie Aggression und Apathie vor diesem Hintergrund als emotionale Reaktionen auf eine Umwelt, die zunehmend als fremd empfunden wird. Für die Pflege bedeutet das umgekehrt, dem Gefühl der Fremdheit etwas entgegenzusetzen, das weniger schwer wiegt. Mehr Lebensqualität trotz Demenz!

Lesen Sie auch den ersten Teil zu diesen zwei Beiträgen: Hier der Link.

Weiterführende Literatur und Links:

Quellenangaben zu den Titelfotos:

Foto: vrot01 / www.flickr.com

http://www.alzheimer-forschung.de/images/user-images/alzheimer-krankheit/illustrationen/Anatomie_des_Gehirns_gross.jpg

Foto: vrot01 / www.flickr.com

Profilbild Marcus Klug

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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