Demenz und Emotionen: Welcher Zusammenhang besteht zur Persönlichkeit?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um den zweiten Teil im Rahmen der Serie “Demenz und Emotionen”. Der Philosoph und Demenzexperte Christian Müller-Hergl geht heute der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen Persönlichkeit, Demenz und Emotionen besteht.

In der heutigen Persönlichkeitsforschung wird in der Regel vom “Fünf-Faktoren-Modell” ausgegangen. Es handelt sich um stabile, voneinander unabhängige und kulturübergreifend stabile Faktoren: Neurotizismus (emotionale Labilität), Intro/Extroversion (gesellig, aktiv, optimistisch), Offenheit (wissbegierig, experimentierfreudig, kritisch), Verträglichkeit (Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Altruismus) und Gewissenhaftigkeit (Sorgfalt, Verantwortung).

Die Annahme, dass sich Persönlichkeit nach dem 30. Lebensjahr kaum ändert, ist nicht unumstritten. Bei älteren Menschen ist zu beobachten, dass die Verträglichkeit zunimmt und die Extrovertiertheit abnimmt: Menschen im Alter sind eher mit inneren Themen beschäftigt und versuchen das, was sie bereits gut können, zu optimieren (selektive Optimierung). Neues zu entdecken wird weniger wichtig. Insgesamt nehmen auch der Neurotizismus und die Offenheit ab und die Gewissenhaftigkeit leicht zu.

Persönlichkeit und Demenz: Einige grundlegende Erkenntnisse aus der Forschung

Die meisten Studien zur Persönlichkeit kreisen um die Demenz vom Alzheimer Typ oder machen keine differenzierten Angaben zur Art der Demenz. Daher sind folgende Ausführungen nicht für alle Arten der Demenz aussagekräftig.

Im Unterschied zu alten Menschen verstärken sich in der Demenz bisherige Persönlichkeitszüge in Intensität und Häufigkeit. Bei aggressiven Patienten mit Demenz werden Aggressionen zugespitzt, während bei depressiven Patienten die depressiven Persönlichkeitsmerkmale zunehmen. Misstrauisch-feindliche Tendenzen vor der Demenz führen wiederum in der Demenz häufiger zu paranoiden Wahnvorstellungen.

Die Merkmale Extraversion und Sorgfältigkeit nehmen ab, die neurotischen Tendenzen nehmen zu. Diese Veränderungen bleiben aber in der Rangordnung der Untersuchten konstant, also: die Personen entwickeln beispielsweise depressive Tendenzen im Rahmen der Demenz nur dann stark aus, wenn Depressivität bereits vor Beginn der Demenz die Person belastet hat. Insgesamt verbleibt die Entwicklung der Persönlichkeitsmerkmale innerhalb der individuellen Konstellation, wie sie sich im Laufe des Lebens herauskristallisiert hat. – Allerdings gibt es auch Demenzformen wie die frontotemporalen Degenerationen oder die Lewy-Body Demenz, bei denen starke Veränderungen der Wesenszüge im Vergleich zum Leben vor Beginn der Demenz festzustellen sind.

Lebenslange Merkmale werden durch die Demenz dramatisiert bzw. intensiviert. Merkmale, die früher der Person geholfen haben, sich zu behaupten (adaptive Muster, z. B. aggressive Selbstbehauptung gegenüber mächtigen anderen), werden jetzt als eher störend oder herausfordernd erlebt. Im Rahmen der Demenz entwickeln sich Tendenzen in den Persönlichkeitsmerkmalen unter Umständen in Richtung psychiatrische Symptome oder Syndrome. Das kann auch damit zusammenhängen, dass im Verlauf der Demenz die Fähigkeiten für Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. Mobilität) abnehmen und vermehrt solche negativen Merkmale wie geringes Interesse, geringe Energie und zunehmende Apathie zu beobachten sind, die wenn sie häufiger und verstärkt auftreten, eben unter Umständen in Richtung psychiatrische Symptome oder Syndrome laufen.

Allerdings: Doch auch wenn eine Verstärkung neurotischer Tendenzen in der Demenz vorliegt, es gibt ein “Gegenmittel”: Hat man im Verlauf des Lebens eine eher offene, neugierige, interessierte Haltung entwickelt, dann wirkt sich dies nachhaltiger in der Demenz aus als die vorab bestehenden neurotischen Anteile.

Weisen Personen vor dem Ausbruch einer solchen Demenz wie Alzheimer einen hohen Faktor für “Offenheit” aus, dann verläuft die Demenz eher freundlich ohne einen hohen Anteil an herausforderndem Verhalten. “Offenheit“ hat als einziger der fünf Faktoren einer Persönlichkeit eine positive Auswirkung auf kognitive Funktionen. Trotz der Zuspitzung neurotischer Tendenzen gilt insgesamt: lebenslang gepflegte und stabile Merkmale einer Persönlichkeit wirken sich in der Demenz bedeutsamer aus als Merkmale von Ängstlichkeit und Depressivität (Neurotizismus).

Gelingt es Menschen, vor Beginn der Demenz eine gute Regulation der Affekte zu stabilisieren (Homöostase), eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen Stress zu entwickeln (Resilienz), ein hohes Strukturniveau zu erreichen (u. a. die Fähigkeit, über sich nachzudenken, Emotionen zu steuern und sich der Tyrannei der Gefühle zu entziehen), dann ist die Chance groß, eher gering oder kaum ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen oder psychotische Symptome im Verlauf der Demenz zu entwickeln.

Zusammenfassung

Auf der Basis unterschiedlicher Persönlichkeitsstrukturen entwickelt sich Persönlichkeit in der Demenz stereotyp und regelhaft in eine bestimmte Richtung weiter, ohne dass die individuellen Unterschiede aufgehoben werden. Entgegen den typischen leichten Persönlichkeitsveränderungen im Alter (weniger Extrovertiertheit, mehr Verträglichkeit) nehmen Menschen mit Demenz eine andere, stereotype Entwicklung, allerdings immer in Bezug auf ihre Ausgangspersönlichkeit mit durchaus unterschiedlichen Ausprägungen der jeweiligen Facetten ihrer Persönlichkeit.

Die Unterschiedlichkeit der Personen bleibt erhalten und Menschen mit Demenz entwickeln keine “uniforme Persönlichkeit“. Einzelne Merkmale der Persönlichkeit verändern sich bereits in der Frühphase der Demenz, insbesondere hoher Neurotizismus (emotionale Labilität) und verringerte Gewissenhaftigkeit – ihre Beachtung könnte einer besseren Früherkennung der Demenz dienen. Während die Personen mit Demenz keine Veränderungen berichten, nehmen Angehörige neurotische Symptome früh wahr.

Persönlichkeit und Demenz: Worauf in der Pflege geachtet werden sollte

Für Pflegende mag es sich als hilfreich erweisen, Persönlichkeitsmerkmale ihrer Klienten zu kennen, um diese gezielt zu berücksichtigen. Dies kann dazu beitragen, erste Signale einer emotionalen Krise rechtzeitig zu erkennen und auf geeignete Weise (Schlüsselworte, Ablenkungen, validierende Sätze) zu intervenieren.

Ausblick

Emotionszentrierte Arbeit mit Menschen mit Demenz erfordert beruflich Pflegende, die für diese Art von Arbeit gut vorbereitet, willens und fähig sind. Im dritten Teil werden wir uns mit den elementaren Voraussetzungen für die Arbeit mit Menschen mit Demenz in der professionellen Pflege befassen.

Weiterführende Literatur:

  •  Wahlin TBR, Byrne GJ (2011): Personality changes in Alzheimer’s disease: a systematic review. International Journal of Geriatric Psychiatry, 26, 1019-1029.

Quellenangaben zu den Titelfotos:

Foto: Adrian Jankowski / www.flickr.com

Foto:alainbocheret / www.flickr.com

Foto: StillBill3 / www.flickr.com

Christian Müller-Hergl ist Philosoph und Theologe. Er arbeitet u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Dialog- und Transferzentrum (DZD) an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Demenz und Gerontopsychiatrie. Er ist zudem strategischer Leiter und Trainer für Dementia Care Mapping-Verfahren, eine ursprünglich von Tom Kitwood und Kathleen Bredin in England entwickeltes personenzentriertes Evaluations- und Beobachtungsverfahren. Kontakt: Christian.Mueller-Hergl@uni-wh.d

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