Szenario 2030: Die ökonomische Durchdringung der Pflege ist nahezu vollständig abgeschlossen. Angehörige werden nur noch “ordentliche Demente” vorgeführt. Demenz ist nicht besiegt, präsentiert sich aber entschärft und gemanagt, sozusagen “light and easy”. Kann das sein? Das Szenario stammt von Christian Müller-Hergl und bildet die Basis zu dem Vortrag “Lebensqualität im Widerspruch”.
Das Publikum war bereits ein wenig erschöpft, als Christian Müller-Hergl am 30. Oktober 2012 im Rahmen der Veranstaltung “Lebensqualität bei Demenz” an der Universität Witten/Herdecke gegen 16:00 Uhr das Rednerpult betrat, um mit seinem Vortrag “Lebensqualität im Widerspruch” zu beginnen.
“Meine Damen und Herren, ich denke, dass war schon eine Menge an geistiger Nahrung an diesem Tag”, sind die ersten Worte, die zu vernehmen sind. Was folgt, ist ein komprimierter Vortrag, der zum Nachdenken anregt. Es geht um das Jahr 2030. Um den Widerspruch zwischen Lebensqualität und Qualitätssicherung in der Pflege. Um die Kosten der Ökonomisierung: zunehmende Gewalt, Tiefenerschöpfung und Verzweiflung breiten sich hinter verschlossenen Vorhängen aus.
Das Jahr 2030: Schöne neue Pflegewelt
Es ist ein düsteres Szenario, das Christian Müller-Hergl an diesem Tag zu späterer Stunde in seinem Vortrag skizziert: “Szenario 2030: Die bürokratisch-technokratische Durchdringung der Pflege ist nahezu vollständig und hat fast alle Frei- und Gestaltungsräume in der Arbeit auf ein Minimum reduziert.”
Das Bild rührt von einer Horrorvision her und soll als Zuspitzung für das Spannungsverhältnis zwischen Lebensqualität und Qualitätssicherung sensibilisieren. Gibt es tatsächlich Entwicklungen und Fakten, die dieses Horrorszenario untermauern? Und vor allem: Wie sieht der Gegenentwurf dazu aus?
Wie alles begann
Man schreibt das Jahr 2008. In der Zeit von 1996 bis 2008 wurden 50.000 Vollzeitstellen in der professionellen Pflege in Deutschland gestrichen: ausgehend von der Gesundheitsreform. Gleichzeitig werden die Arbeitsanforderungen zunehmend größer: Dies gilt vor allem für den Dienstleistungssektor, in dem mittlerweile nahezu 70% aller Arbeitskräfte hierzulande arbeiten. Mentale Leistungsfähigkeit ist das oberste Prinzip: Arbeitsabläufe werden verdichtet, Aufgaben gewinnen an Komplexität.
Dieser Trend wird noch weiter dadurch verstärkt, dass Personalmangel schon lange keine Ausnahmeerscheinung mehr bildet: Immer mehr Aufgaben werden tendenziös auf den Köpfen und Schultern von wenigen Menschen verteilt. Auf der anderen Seite – im Falle vorübergehender Arbeitslosigkeit – kommt es zur Zwangsentschleunigung.
Manch einer, wie z. B. der US-Ökonom Jeremy Rifkin, spricht gar vom Ende der Arbeit, wie wir sie kennen. Die Folgen: Die ökonomischen Rahmenbedingungen, die einen erheblichen Einfluss auf den Fluss von Waren und Dienstleistungen ausüben, ändern sich radikal. Die Kehrseite zu dieser Entwicklung: Seit 1990 haben sich die Krankschreibungen – aufgrund psychischer Probleme – fast verdoppelt – Tendenz steigend.
Von dieser Entwicklung ist die Pflege ganz besonders betroffen, da sie zu den “helfenden Berufen” (wie auch Arzt, Lehrer etc.) gehört. Denn nicht nur das mentale Anforderungsprofil ist in der Pflege recht hoch, sondern auch die körperliche und emotionale Beanspruchung. Einer Studie aus dem Jahre 2011 zufolge häufen sich Erschöpfung, Müdigkeit und Unzufriedenheit und das Gefühl permanenter Überforderung.
Was außerdem noch hinzukommt, ist das Bemühen, möglichst das Beste für Opa Wilfried zu tun, aber nur selten das Gefühl zu haben, diesem Anspruch auch tatsächlich gerecht zu werden. Studien belegen: je geringer die Überzeugung der Selbstwirksamkeit, desto höher die emotionale Erschöpfung. Burnout ist nicht mehr weit entfernt. Was Studien außerdem belegen: Mit der Unzufriedenheit und Erschöpfung steigt die Bereitschaft, Misshandlungen von Menschen stillschweigend hinzunehmen, etwa bei Menschen mit Demenz. Es existiert somit eine Beziehung zwischen Burnout und Gewalt.
Um diese Tendenzen in ihren Zusammenhängen besser zu verstehen, sollte man zudem die ökonomischen Rahmenbedingungen genauer unter die Lupe nehmen. Dazu gehört ebenso die Frage nach der Qualitätssicherung, die auch Christian Müller-Hergl in seinem kritischen Vortrag aufwirft, und der Widerspruch zwischen Qualitätssicherung und Lebensqualität. Wie kann man angesichts solcher Tendenzen, wie sie im Vorfeld bereits angesprochen worden sind, überhaupt von Lebensqualität sprechen?
Die Schaffung einer geschlossenen Arbeitssituation
Die Schaffung einer geschlossenen Arbeitssituation, in der Kontrolle, Risikovermeidung und Ordnungsprinzipien dominieren, verkehren den Qualitätsanspruch in das Gegenteil. Qualitätssicherung steht dann nicht mehr für Lebensqualität, so die These von Christian Müller-Hergl.
Dies lässt sich u. a. damit begründen, dass in einer geschlossenen Arbeitssituation die Beziehungsdimension tendenziös in den Hintergrund rückt. Für die Sorgen von Opa Wilfried bleibt kaum noch Zeit. Stattdessen kümmern sich wenige Pflegende um viele hilfebedürftige ältere Menschen, während parallel dazu alle Arbeitsabläufe penibel dokumentiert und weitere Vorgaben rigoros eingehalten werden müssen, damit die Qualitätssicherung nach außen hin garantiert werden kann.
Das eigentliche Dilemma an dieser Situtation: Die Pflegenden haben nicht mehr das Gefühl, dass sie diese Situation verbessern könnten. Sie handeln somit zunehmend fremdbestimmter und nehmen die geringen Möglichkeiten zu Veränderung und Gestaltung hin oder kündigen gar ihren Job. Die Arbeit an Beziehungen – die eigentlich wichtigste Aufgabe in der Pflege – rückt immer weiter in den Hintergrund.
Das Horrorszenario 2030 rückt somit in greifbare Nähe, denn die ökonomische Durchdringung ist bereits weit fortgeschritten: Schöne neue Pflegewelt. Aber wie sieht eigentlich der Gegenentwurf dazu aus?
Das Jahr 2030: Eine alternative Vision
Worin besteht der Unterschied zwischen einer geschlossenen und einer mehr offenen Arbeitssituation? Wie lässt sich ein Arbeitsklima schaffen, in dem das Gefühl der Selbstwirksamkeit steigt?
Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass die Unzufriedenheit in der Arbeit in erster Linie mit den Rahmenbedingungen zusammenhängt. Es geht dabei weniger um den Anspruch, um die Herausforderungen, die in der Pflege zu bewältigen sind, sondern um die Haltungen der Einzelnen, des Teams und das Vertrauen darauf, dass gute Personalführung und ein positives Arbeitsklima auch zu besseren Ergebnissen führen.
Weitere Faktoren in diesem Zusammenhang:
- Offenheit gegenüber der Umwelt
- Intrinsische Motivation
- Aktive Achtsamkeit
- Möglichkeiten zur Gestaltung neben festgelegten Routinen
- Schaffung eines Klimas beständiger Entwicklung und beständigen Lernens
- Soziale Anreize (Belohnungen, Personalentwicklung)
- Ausgleich und Entlastung
Eine alternative Vision von der Zukunft in der Pflege besteht vor diesem Hintergrund insbesondere darin, dass die Rahmenbedingungen und die Art und Weise, wie organisiert wird, dazu beitragen, die Veränderung und Entwicklung in Richtung einer offenen Situation zu bewirken.
Wie eine solche Organisationsform in der Praxis zukünftig aussehen könnte, hat Christian Müller-Hergl in seinem Vortrag in den Grundzügen beschrieben: “Grundlage von Regelungen bilden nicht Verfahrensanweisungen, sondern Austausch- und Beratungsprozesse (…) Die familiäre Atmosphäre in den Kernzellen trägt dazu bei, die Pflege zu individualisieren und stereotypen Umgangsformen entgegen zu wirken.”
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Quellenangaben zu Bildern:
- Industrie / Foto: Arctis / flickr.com
- Das erschöpfte Ich / Foto: Pauline S. / flickr.com
- Wuerde 3 / Foto: ali baba apfeltee / flickr.com
Christian Müller-Hergl ist Philosoph und Theologe. Er arbeitet u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Dialog- und Transferzentrum (DZD) an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Demenz und Gerontopsychiatrie. Er ist zudem strategischer Leiter und Trainer für Dementia Care Mapping-Verfahren, eine ursprünglich von Tom Kitwood und Kathleen Bredin in England entwickeltes personenzentriertes Evaluations- und Beobachtungsverfahren. Kontakt: Christian.Mueller-Hergl@uni-wh.de.
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.