“Im Zeitalter der ökonomisierten Medizin”, so Giovanni Maio in seinem Buch “Geschäftsmodell Gesundheit”, “sucht man nicht mehr nach einer singulären Antwort auf eine individuelle Problemlage.” Der Widerspruch zwischen individuellen Bedürfnissen und industriellem Denken tritt an kaum einem Ort so deutlich hervor wie im Krankenhaus: eine Zerreißprobe für Menschen mit Demenz.
Als ich das Buch von dem Philosophen und Medizinethiker Giovanni Maio “Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft” (2014) gelesen habe, stellte ich mir zunächst keine Ärzte und Pflegenden vor, die im Krankenhaus arbeiten, sondern Manager und Investmentbanker, die für eine Bank tätig sind.
Maios Abhandlung ist ein mutiges, unaufgeregtes Plädoyer für eine humanere Medizin und beschreibt wie ökonomisches Denken und zunehmende Industrialisierung im Gesundheitswesen dazu beitragen, das Berufsethos von Ärzten und Pflegekräften schrittweise infrage zu stellen und durch eine neue marktkonforme Betriebslogik zu ersetzen. Gerade die Grundbedürfnisse von Menschen mit Demenz widersetzen sich dieser Logik rigoros: Auf der einen Seite geht es um viel Geduld, um Rücksicht und Einfühlung, auf der anderen Seite um Abschaffung der Geduld, handwerklich-technische Qualität vor Beziehungsqualität und Quantifizierung.
Dabei existiert auch das “Problemfeld Bonuszahlungen: Belohnungen für das Falsche”, so der Titel eines Kapitels in dem Buch von Maio. Stellen Sie sich dabei ein öffentliches Krankenhaus vor, das nunmehr im Wettbewerb bestehen muss und dessen Personal zunehmend mehr im Denken ökonomisch umprogrammiert wird.
Giovanni Maio skizziert das in seinem Buch am Beispiel einer “Prozesskette”. Zunächst wären da die “Bonusverträge als Entwertung ärztlicher Hilfe”. “Viele Ökonomen setzen ein bestimmtes Menschenbild voraus”, so Maio, “in dem jeder systematisch nur nach zumeist materiellem Gewinn für sich strebt.” Wo Ärzte und Pflegende ursprünglich die Befriedigung in der Beziehung zu ihren Patienten suchten, etwa zu Menschen mit Demenz im Krankenhaus, breitet sich immer mehr das Gefühl aus, den äußeren materiellen Anforderungen nicht mehr Stand halten zu können.
Die eigentliche Berufung der professionellen Helfer tritt somit allmählich zurück und wird durch eine neue Systemlogik pervertiert. “Wenn der Unternehmer aber auf Boni beharrt, dann ist damit automatisch die Erwartung verknüpft, dass der Arzt seine Therapieentscheidung auch vom Bonus mit abhängig macht. Dies zu Ende gedacht, bedeutet der Bonus, solange er sich auf die Therapieentscheidung bezieht, das Einkalkulieren der grundsätzlichen Korrumpierbarkeit der Ärzte”, so Maio.
Schließlich folgt die allmähliche “Profanierung der helfenden Berufe” und die “innere Leere”. Der Arzt wird zum reinen Leistungserbringer, der wie ein Manager funktionieren soll. Und die Versorgung der Kranken ist dementsprechend Teil eines Systems von ökonomischen Vorgaben, Kennziffern und Outputs, Bonuszahlungen und Anreizsystemen, an dem der Qualitätsstandard als Dienstleister am kranken Kunden gemessen wird. Als Person ist man zwar vielleicht noch davon überzeugt, dass das, was man gegenüber seinen Patienten verordnet, häufig nicht den Kern des Problems trifft, als Dienstleister ist man aber bereits Teil eines industriellen Gesundheitskomplexes.
Ich sehe in diesem Kreislauf durchaus frappante Parallelen zu jenen Teilen der Finanzwirtschaft, in denen Empathie und soziale Intelligenz nicht mehr “belohnt” werden, sondern stattdessen den Nährboden für ein System bilden, in dem Konkurrenz, Korrumpierbarkeit und partikulare Interessenverbände den Ton angeben.
Wollen wir das wirklich?
Wie der Markt die Heilkunst abschafft
An sich ist ja überhaupt nichts dagegen einzuwenden, in der Versorgung von hilfebedürftigen Menschen im Krankenhaus hier und da ökonomischer zu denken. Sie sollten dabei auch nicht die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs “Ökonomie” außer Acht lassen. Denn ursprünglich bedeutet dieser Begriff ja so viel wie “haushalten”. Die Frage stellt sich nur, inwieweit ökonomische Fragestellungen auch in solchen Teilen des Gesundheitssystems anzutreffen sind, die dort an sich überhaupt nichts zu verloren haben. Es geht also um eine differenzierte Betrachtungsweise des Zusammenspiels von Gesundheit und Ökonomie, die anscheinend in einer einheitlichen Unterwerfungslogik aufgelöst werden soll: Ökonomie vor Gesundheit.
“Das ökonomische Denken ist so vorherrschend, dass sich dadurch auch die inneren Einstellungen der Heilberufe sukzessive verändern. Wie konnte es dazu kommen, und was steckt dahinter?” (Giovanni Maio)
Anschaulich wird das, wenn Sie dabei “Das Stufenmodell der Ökonomisierung” nach Schimank und Volkmann betrachten, das auch Maio in seinem Buch anführt.
- Stufe 1: Es herrscht kein Kostenbewusstsein bei den Akteuren
- Stufe 2: Verlustvermeidung als “Soll-Erwartung” an die Akteure
- Stufe 3: Verlustvermeidung als “Muss-Erwartung”
- Stufe 4: Verlustvermeidung als “Muss-Erwartung” kombiniert mit Gewinnzielen als “Soll-Erwartung”
- Stufe 5: Gewinnerzielung als einziges Ziel des Teilsystems
Zurecht weist Giovanni Maio anhand dieses Modells daraufhin, dass nicht Stufe 1 bis 3 das Problem darstellen, sondern eher jene Stufen, die nur noch Verlustvermeidung und Gewinnerzielung als alles bestimmende Faktoren deklarieren. Es gibt bereits einzelne Krankenhäuser in Deutschland, die sich auf Stufe 4 und 5 bewegen. Dies ist deshalb problematisch, weil der Arzt damit auch die Freiheit verliert, jenseits des Kostendrucks darüber zu entscheiden, wann beispielsweise eine Therapie Sinn macht und wann nicht.
Zudem gibt es in dieser Logik bestimmte Parameter, die überhaupt nicht mit “Gewinn” und “Verlust” betrachtet werden können. Hierzu gehören beispielsweise viele Punkte, die in der Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz von besonderer Bedeutung sind, etwa längere Gespräche mit dem Patienten, Fürsorge und spezielle Hilfeleistungen jenseits technisch-funktionaler Erwägungen, oder die ganzheitliche Betrachtungsweise verschiedener parallel existierender Beschwerden eines Patienten. Stichwort “Multimorbidität”
Maio führt viele überzeugende Beispiele für eine fragwürdige ökonomische Entwicklung im Gesundheitswesen an. Dazu kommen auch mehrere entscheidende Gesetzesänderungen, die hierzulande die Weichen für eine schleichende Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens gesetzt haben. Zu nennen wäre beispielsweise das Gesundheitsstrukturgesetz vom 1.1.1993. Mit diesem Gesetz wurde erstmalig auf der politischen Ebene eine Begrenzung der Ausgaben verabschiedet. Fortsetzung dieser Politik und ein Paradigmenwechsel war 2003 die endgültige Einführung der sogenannten DRGs, also der Fallpauschalen für die gesamte Medizin.
“Die Finanzierung”, so Maio in seinem Buch, “erfolgt seitdem nicht mehr wie früher durch eine retrospektive Finanzierung, also dadurch, dass erst nach der Behandlung die Kosten festgestellt und ersetzt werden, sondern stattdessen nunmehr durch eine prospektive Finanzierung, also schon bevor die Behandlung des Patienten begonnen hat. Mit der Fallpauschale ist im Vorhinein klar, wie viel das Krankenhaus für den Patienten erhält, und es obliegt dem Krankenhaus, die Behandlung so zu gestalten, dass es mit dem Geld auskommt. Auf diese Weise sind die Krankenhäuser einer betriebswirtschaftlichen Effizienz- und Wettbewerbslogik unterworfen.”
Fazit: Aufwertung der Beziehungsmedizin
Heutzutage ist es längst nicht mehr selbstverständlich, kranken Menschen auch dann zu helfen, wenn man nicht genau bereits im Vorfeld weiß, wie viel man mit einzelnen medizinischen Maßnahmen erreichen kann. Dies gilt ganz besonders für die Pflege und Versorgung von Menschen mit Demenz. Auch wenn sich Giovanni Maio nicht explizit mit Demenz in seinem Buch auseinandersetzt, bekommen professionelle Helfer eine glasklare kritische Diagnose über die zunehmende Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens insbesondere an der Schnittstelle zum Krankenhaus geboten. Dabei wird auch wesentlich klarer, warum die Versorgung von Menschen mit Demenz gerade im Krankenhaus nicht selten eine echte Zerreißprobe darstellen kann. Am Ende des Buches folgt konsequenterweise die Frage danach, wie das “Diktat der Effizienzsteigerung” gebrochen werden kann: “Für eine Aufwertung der Beziehungsmedizin”. Das Buch ist insbesondere wegen seiner messerscharfen Analyse sehr zu empfehlen!
Das Buch “Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft” von Giovanni Maio ist 2014 im Suhrkamp Verlag erschienen. Hier der Link zum Buch.
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.