In der heutigen Episode in unserer Serie „Blogs über Demenz“ beschäftigen wir uns mit der Theorie zur Pflege. Welche Blogs und Internetportale sind in der Vermittlung von Pflegetheorien und wissenschaftlichen Erkenntnissen besonders empfehlenswert? Inwieweit profitieren professionell Pflegende und Angehörige im Umgang mit Demenz von der Theorie? Und welche verschiedenen Schwerpunkte existieren innerhalb der Pflegewissenschaft?
Dieser Beitrag soll dazu anregen, sich intensiver mit der Theorie zur Pflege zu beschäftigen. Es geht also vor allem darum, die Frage zu beantworten, warum Theorie für die Praxis wichtig ist und welche Blogs und Internetportale Lust auf mehr machen. Theorie ist eine Frage der Vermittlung. Sie kann spannend sein, zum Denken anregen, neuen Ideen entfachen, Interventionsmöglichkeiten aufzeigen. Sie kann aber auch eine trockene und abstrakte Angelegenheit sein, vollgespickt sein mit unmissverständlichen Fachbegriffen, verschachtelten Satzkonstruktionen und wenig alltagstauglichen Beobachtungen und Beispielen.
Die Pflegewissenschaft: ein ganzes Bündel von Theorien
Ich selbst bin kein Pflegewissenschaftler. Das hat den Vorteil, dass ich ein wenig unbedarfter mit der Theorie zur Pflege verfahren kann. Genauso wie manche professionelle Pflegekräfte und Angehörige stelle ich mir die Frage, was in der Pflegewissenschaft unter Theorie verstanden wird und inwieweit diese für die Praxis tauglich ist. Bei der Pflegewissenschaft handelt sich ja um ein ganzes Bündel von Theorien, die unter einem gemeinsamen Dach geführt werden.
Wenn Sie sich beispielsweise die Frage stellen, welche Bedürfnisse auf Seiten der demenzkranken Menschen vorliegen und wie diese Bedürfnisse besser erfasst werden können, sind mit dieser Fragestellung ganz andere Theorien verbunden (u. a. Theorien von Faye Abdellah, Virginia Henderson, Dorothea Orem und Nancy Roper), als wenn Sie die Frage der Beziehung zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen (bei dieser Fragestellung wären Interaktionstheorien gefragt, u. a. Theorien von Ida Jean Orlando, Imogene King und Watson). Oder gar die Beziehung zwischen Pflegenden, Pflegebedürftigen und den dazugehörigen Rahmenbedingungen hinterfragen (bei dieser Fragstellung wäre die Systemtheorie gefragt – also die Theorie des systemischen Gleichgewichts).
Wir sehen schon an diesen Fragestellungen, dass es hier weniger um das medizinische Wissen im Umgang mit Demenz geht. Fragen wie „Welche unterschiedlichen Demenzformen existieren?“, „Welche Erkennungszeichen sind mit einer Demenz verbunden?“, „Wie wird das Gedächtnis im Laufe der Krankheit beeinträchtigt?“ sind zwar ebenso von großer Bedeutung, um den Krankheitsverlauf – etwa aus der kognitiven Perspektive (Beispiele dafür wären solche Phänomene wie Aphasie, was Störung der Sprache bedeutet, oder die Störung der Exekutivfunktionen, d. h. Planen, Organisieren, Erhalten einer bestimmten Reihenfolge etc.) – besser einordnen zu können, jedoch stehen in der Pflegewissenschaft andere Fragen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Fragen, die vor allem der Reflexion und der Überprüfung der Wirksamkeit von Pflege zu Gute kommen.
Ein Selbstgespräch mit Dr. Skeptikus: Wozu Theorie in der Pflege?
Bei meiner Recherche stieß ich zunächst auf ein Internetportal, das ich schon seit längerer Zeit kenne: „experto.de“. Dieses Portal ist ein Online-Expertenportal, in dem Experten zu unterschiedlichen Themen ihre Beiträge veröffentlichen, etwa zum Thema „Gesundheit“ oder „Computer“. Ein solcher Experte, nämlich Dr. Jörg W. Tauch, hat sich auf Demenz und Pflege spezialisiert. Auf „experto.de“ hat er eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, die ein Überblick über die Pflegetheorie geben. Besonders bemerkenswert fand ich dabei seine Idee, ein Interview im Vorfeld zu dieser Serie zu veröffentlichen, in dem ein gewisser Dr. Skeptikus auf den Plan tritt.
Dieses Interview ist wie ein Selbstgespräch zu betrachten. Denn viele professionelle Pflegekräfte und Angehörige stellen immer wieder die Frage nach dem Nutzen von Theorie in der Praxis. Zu Beginn dieses Selbstgesprächs merkt daher Dr. Skeptikus an: „Pflegetheorie – ist das nicht ein bisschen übertrieben? Das hat doch in der Regel dann nichts mehr mit der Praxis zu tun. Pflege erlernen kann man sowieso nicht.“ usw.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle einen Zahn ziehen. Die Theorie ist nicht ausschließlich dazu da, die permanente Frage nach dem Nutzen zu bestärken: Ganz in dem Sinne, dass wir uns hier und da ein bisschen Theorie anlesen, um daraus unmittelbar den Nutzen in der Praxis zu ziehen – das ist eine völlig undifferenzierte Betrachtung dieser Beziehung, also der Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Und Theorie ist auch kein Unterhaltungsprogramm, was nicht heißt, dass sie langweilig sein muss: im Gegenteil. Ich kenne viele Theorien, Studien und wissenschaftliche Methoden, die äußerst spannend und anregend sind.
Der Nutzen der Theorie für die pflegerische Praxis lässt sich in etwa so beschreiben: Theorie in der Pflege ist u. a. dazu da, die eigene Routine, festgefahrene Begriffe und Vorurteile zu hinterfragen und zu revidieren, aber auch schlichtweg längst überholtes Wissen durch theoretische Erkenntnisse und wissenschaftliche Studien zu korrigieren, um die Qualität der Pflege zu verbessern und die eigene Perspektive im Umgang mit demenzkranken Menschen entscheidend zu erweitern.
Gerade im Umgang mit Demenz wird die pflegerische Routine relativ schnell an eine Grenze geführt. Es ist beinahe unmöglich, ein tieferes Verständnis für den demenzkranken Menschen ausschließlich auf diese Art zu entwickeln, ohne das Handwerk mit der Theorie zu verknüpfen. Sei es um die eigene Routine zu durchbrechen, weil wir plötzlich merken, dass wir in gewissen extremeren Situationen im Umgang mit demenzkranken Menschen nicht mehr weiter kommen (die Person hört nicht mehr auf zu schreien, um ein Beispiel zu nennen), oder sei es dazu, die eigene Kommunikation, die Beziehungsdimension und das Umfeld, in dem wir uns als professionelle Pflegekraft bewegen, durch die Theorie mehr unter einer systemischen Perspektive zu reflektieren.
Denn zuweilen reicht es nicht aus, lediglich die Beziehung zwischen einer einzelnen Pflegekraft und einem demenzkranken Mensch zu betrachten. Zu dieser Beziehung gehören nämlich auch die Rahmenbedingungen, die Umwelt – gerade in der professionellen Pflege, so dass Sie sich beispielsweise in systemischer Hinsicht die Frage stellen können, ob die Rahmenbedingungen – etwa bei der täglichen Arbeit im Pflegeheim – auch tatsächlich dazu beitragen, die Qualität der Pflege zu verbessern: also Augen auf für die Umwelt!
Blogs und Internetportale zur Pflegewissenschaft: der personenzentrierte Ansatz
Mich interessiert insbesondere die Frage, wie sich theoretisches Wissen systematisieren lässt. Einen wirklich guten Überblick zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, die für die Pflege relevant sind, liefert das Pflegewiki – „ein Wiki-Projekt für den Gesundheitsbereich Pflege“, wie wir auf der Startseite dieses Projekts erfahren, „seit dem 15.08.2004 von Freiwilligen gemeinschaftlich aufgebaut“. Sie kennen dieses Projekt wahrscheinlich. Entscheidend ist aber bei der Nutzung dieses Portals (so wie letztendlich bei allen Informationsangeboten im Internet) die Herangehensweise, nämlich die Frage danach, unter welchen Gesichtspunkten wir unsere Recherche beginnen und welche Ziele wir dabei verfolgen. Unter dem Eintrag „Pflegetheorie“ bekommen wir einen ersten Überblick über die Frage geboten, welche verschiedenen Schwerpunkte in der Pflegetheorie zu finden sind.
- Was ist Pflege?
- Wer pflegt?
- Was tut Pflege?
- Was wird von ihr erwartet?
- Wie tut sie es?
- Was kann mit Pflege bewirkt werden?
Stellen Sie sich diese Fragestellungen als Zentrum einer Informationsgrafik vor. Zu jeder Fragestellung werden Sie verschiedene Theorien und Studien entdecken, die ihr Wissen in diesen Bereichen erweitern werden und die letztendlich dazu beitragen, dass Sie die Praxis und den Umgang mit demenzerkrankten Personen ganz anders reflektieren, als wenn Sie dieses Wissen einfach außen vor lassen würden, weil Sie beispielsweise glauben, dass Theorie in der Pflegepraxis einfach nichts zu suchen hat.
Das ist für mich der springende Punkt im Transfer von Wissen in die pflegerische Praxis. Nehmen wir als Beispiel die beiden fett markierten Fragstellungen „Was tut Pflege?“ und „Wie tut sie es?“. Bei beiden Fragstellungen können wir die Beziehung zwischen der pflegenden Person und den zu pflegenden Menschen hervorheben. Neben der Routine im Umgang mit einer an Demenz erkrankten Person geht es z. B. gerade auch um das einfühlende Verstehen.
Eine Methode, die das einfühlende Verstehen umfasst, ist etwa die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (client-centered-therapy) nach Carl Rogers, die in den USA entwickelt worden ist. Betrachten Sie dazu auch diese Mindmap. Der Ansatz von Rogers enthält ein ganzes Bündel von weiteren Theorien, wie wir im Eintrag „Carl Rogers“ im Pflegewiki nachlesen können. Dazu gehören:
- Theorie der Therapie und Persönlichkeitsveränderung
- Persönlichkeitstheorie
- Theorie der voll entwickelten Persönlichkeit (full-functioning-person)
- Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen und
- Anwendungstheorien
Entscheidend ist bei diesem Ansatz die Wertschätzung gegenüber der Person, die wir betreuen. Es geht also vor allem darum, die Person in ihrem Verhalten (unter Berücksichtigung ihrer Lebenserfahrung und ihrer Biografie) besser zu verstehen und gerade auch solche Verhaltensweisen in diese Betrachtungsweise mit einzubeziehen, die möglicherweise zunächst als „stark von der Norm abweichend“ beurteilt werden. Wir können das als das Einüben einer mehr wertfreien Blickweise auf den Menschen auffassen, den wir pflegen.
Rogers geht es somit um eine positive Wertschätzung gegenüber dem Klienten (in der Tradition der humanistischen Psychologie), was in der Pflege nicht immer leicht fällt. Insbesondere dann nicht, wenn die Belastungsgrenze bereits erreicht oder gar schon längst überschritten ist. Aber gerade darin besteht ja auch die Herausforderung in der professionellen Pflege!
Die Frage stellt sich also vor diesem Hintergrund, wie Pflegende und Angehörige im Umgang mit zum Teil verwirrten alten Menschen – durch die Theorie vermittelt – aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus Wege zum würdevollen Umgang mit diesen Menschen entwickeln können.
Neben dem Ansatz der klientenzentrierten Gesprächstherapie nach Rogers existiert in diesem Zusammenhang auch der personenzentrierte Ansatz nach Tom Kitwood – ein englischer Psychologe – für den – ähnlich wie auch bei Rogers – die Beziehungsgestaltung im Mittelpunkt steht.
Über den Blog „Brueckenzurdemenz´s Blog“ (Wissen zur sozialen Betreuung Demenzerkrankter im Netz), der von dem Pädagogen Stefan Herold betrieben wird und in dem weitere wertvolle Quellen zur sozialen Betreuung Demenzerkrankter enthalten sind, bin ich auf ein weiteres Internetportal gestoßen: und zwar auf „Alzheimer Angehörigen – Initiative Leipzig e. V.“.
Auf dieser Seite finden Sie einen sehr lesenswerten Beitrag, in dem verschiedene personenzentrierte Ansätze (u. a. der Ansatz von Kitwood), die in der Pflege äußerst nützlich sein können, auf recht anschauliche Art zusammengefasst worden sind. Hier der Link dazu: Konzepte zum Umgang mit verwirrten alten Menschen.
Quellenangaben zu den Fotos:
http://meduzo.pl/images/carl.jpg
http://www.proventus.se/img/img_news_20080623_m3.jpg
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.