Noch in den 1980er Jahren wurde das zum Teil herausfordernde Verhalten von Personen mit Demenz wie Schreien und Rufen ausschließlich auf Schädigungen des Gehirns zurückgeführt. Das Fachbuch “Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz” von Ian Andrew James beleuchtet Verhalten dagegen aus biopsychosozialer Perspektive.
Das Sachbuch “Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz” von Ian Andrew James kann deshalb bereits als moderner Klassiker bezeichnet werden, weil dieses Buch in einer speziellen traditionellen Linie steht, die ein radikal anderes Verständnis des Verhaltens von Menschen mit Demenz repräsentiert. Wie der Herausgeber dieses Fachbuchs – Detlef Rüsing – in der Einführung schreibt, dominierte in den 1980iger Jahren in der Pflege noch das medizinische Verständnis von Demenz. Als Ursachen für herausforderndes Verhalten wurden damals vor allem Schädigungen des Gehirns herangezogen, wohingegen psychologische oder soziale Erklärungsansätze weitgehend unerhört blieben. Daraus konnte in der Pflege nichts anderes resultieren als eine Art “pflegerischer Nihilismus”. Wenn also einzelne herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz wie unter anderem Schreien und Rufen letztendlich das Resultat von Hirnschädigungen darstellen, besitzt die Pflege bei dieser Sichtweise keinerlei Potenzial mehr.
In der Altenpflege wurde dieses Verständnis erstmals radikaler in Frage gestellt, als die Schriften und Filme von Naomi und Ed Feil ausführlicher in der Pflege diskutiert worden sind (siehe dazu auch das Video: Geschichte und Anwendung der Validation). Mit diesen Ansätzen lag in Deutschland erstmals ein biopsychosoziales Modell für den Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen vor. Die nicht aufzuhaltende Aufbruchsstimmung und Zuwendung zu einem biopsychosozialen Verständnis von Menschen mit Demenz wurde im Jahr 1998 insbesondere auch mit der Herausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von Tom Kitwoods Buch “Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen” durch Christian Müller-Hergl stark beeinflusst. Genau in dieser Tradition steht auch das Buch von Ian Andrew James, der in Großbritannien ein angesehener Experte für das Verständnis von herausfordernden Verhaltensweisen ist und der auch die Bradford Dementia Group zum Thema berät.
Ein kurzer Ausflug in die Psychobiologie
Ich interessiere mich schon seit vielen Jahren für solche Erklärungsansätze von Verhalten, die Psychologie und Biologie gleichermaßen zum Verständnis heranziehen. Die Fachdisziplin dazu nennt sich “Psychobiologie”. Schon weit vor den pflegewissenschaftlichen Ansätzen von Naomi und Ed Feil oder auch Tom Kitwood entwickelte sich dieser Ansatz als interdisziplinäre Synthese von Neurobiologie und Physiologie, Verhaltensbiologie und Evolutionsforschung, Genetik und Molekularbiologie, Psychologie und Ethnologie. Neu an diesem Ansatz war beispielsweise bei Tom Kitwood die Adaption auf ein anderes Feld: Denn in der Pflege wurde plötzlich entdeckt, dass ein medizinisches Modell zur Erklärung des Verhaltens von Menschen mit Demenz alleine nicht ausreicht, um die Komplexität der menschlichen Natur abbilden zu können.
Eine ähnliche Wende wurde übrigens auch in der Lerntheorie vollzogen. Auch hier gehen wir mittlerweile in der Forschung davon aus, dass behavioristische Lerntheorien in der Deutung von Verhalten – ähnlich wie der medizinische Ansatz in der Deutung von Verhalten von Menschen mit Demenz – eine häufig sehr grobe Vereinfachung darstellen. Zur Erklärung: Der amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher B. F. Skinner war noch in den 1960er Jahren davon überzeugt, dass Menschen vor allem dann lernen und ihr Verhalten verändern, wenn Verhalten durch äußere Reize stimuliert und konditioniert wird. Die Psyche wurde dabei allerdings von Skinner komplett ausgeklammert.
Das Buch von Ian Andrew James
Besonders bemerkenswert an dem Fachbuch von James finde ich die Systematik. Nach der Lektüre dieses Buches verstehen wir nicht nur wesentlich besser, was herausforderndes Verhalten überhaupt bedeutet, sondern gewinnen darüber hinaus auch eine erweiterte Perspektive auf das Krankheitsbild der Demenz. Herausfordernde Verhaltensweisen haben zumeist auch etwas mit der Beziehung zu tun, die zwischen professionell Pflegenden und Betroffenen besteht und dem Umfeld, in dem diese Beziehung eingebettet ist.
“Herausforderndes Verhalten wird in diesem Werk definiert als Handlung, die das Wohlbefinden einer Person beeinträchtigt, weil sie für das Setting, in dem diese Handlung stattfindet, eine physische oder psychische Belastung darstellt. Betroffen kann die handelnde Person selbst sein oder Personen in ihrem unmittelbaren Umfeld.” Ian Andrew James
Das wird in diesem Fachbuch unter anderem am Beispiel des Schreiens veranschaulicht. Wenn wir verschiedene Formen von Schreien unterscheiden, die häufigsten biopsychosozialen Ursachen, gewinnen wir auch ein viel feineres Verständnis für das komplexe Zusammenspiel von Ursachen und Wirkungen im Verständnis von Verhalten.
Biologisch betrachtet, kann Schreien durch Schmerzen bedingt sein, durch Hunger oder Durst. Biologisch betrachtet, können auch Schädigungen des Frontallappens als Ursachen für herausforderndes Verhalten herangezogen werden. Aber das sind längst nicht die einzigen Erklärungsmöglichkeiten. Denn auf sozialer Ebene können auch Kommunikationsprobleme bestehen oder eine Person kann auch das Gefühl haben, sozial abgelehnt zu werden. Schließlich wären auch die psychischen Ursachen zu nennen. Angst, Furcht, Einsamkeit oder Langeweile.
Messinstrumente und nichtpharmakologische Behandlungsansätze
In dem Buch von James werden verschiedene nichtpharmakologische Behandlungsansätze, Messmethoden und Assessment-Instrumente näher vorgestellt, die in der Praxis ohne zu großen Zeitaufwand angewandt werden können. Bei den Messmethoden und Assessment-Instrumenten wären insbesondere das Neuropsychiatric Inventory (NPI), das Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI) und die Challeging Behaviour Scale (CMAI) zu nennen.
Cohen-Mansfield geht davon aus, dass es sich bei herausfordernden Verhaltensweisen häufig um Bedürfnisse handelt, die im Augenblick nicht befriedigt werden können. Bei dem Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI) wird agitiertes Verhalten mit seiner Häufigkeit in einem bestimmten Beurteilungszeitraum (üblicherweise die letzten zwei Wochen) dokumentiert. Anzumerken ist bei diesem Instrument außerdem, dass es kürzere und längere Versionen gibt, was die Anzahl an Items anbelangt; die Kurzform hat 12 Items, die Langform 29 Items. Außerdem wird in der englischen Originalfassung noch weiter danach unterschieden, ob wir bei Agitation von körperlich aggressiven oder nichtaggressiven Formen, verbal aggressiven und verbal nichtaggressiven Formen sprechen. Beispiel: Körperlich aggressive Formen: Menschen mit Demenz, die schlagen, stechen oder schreien. Körperlich nichtaggressive Formen: Menschen mit Demenz, die zusätzlich unter Apathie oder Depression leiden. Derartige Assessment-Instrumente können in der Pflege sehr nützlich sein, da sie ein analytisches Instrumentarium darstellen, um mögliche Ursachen von einzelnen herausfordernden Verhaltensweisen genauer zu erfassen, insbesondere in solchen Fällen, die immer wieder auftauchen, bis dato aber noch nicht gelöst worden sind.
Bei den nichtpharmakologischen Behandlungsansätzen werden unter anderem die Realitätsorientierung, Validation, Kognitive Verhaltenstherapie und Musiktherapie näher behandelt. Dabei geht James auch auf die wissenschaftliche Forschung zu der Wirksamkeit dieser Ansätze ausführlicher ein. Der Nutzen dieser Ansätze wird dann dementsprechend auch ebenso konsequent auf verschiedenen Ebenen wissenschaftlich diskutiert. Ein gutes Beispiel dazu ist der Nutzen psychomotorischer Tanztherapie. Auf der Ebene des Verhaltens kann Tanzen motivierend sein, Agitation und Frustration reduzieren. Tanzen stimuliert aber auch soziale Kontakte. Darüber hinaus werden in geistiger Hinsicht positive Erinnerungen geweckt oder die Aufmerksamkeit und die Konzentrationsspanne stimuliert.
Fazit
Ich kann das Fachbuch von Ian James uneingeschränkt empfehlen. Besonders überzeugt hat mich die systematische Herangehensweise an das Thema und das wissenschaftliche Hinterfragen von einzelnen Messinstrumenten und nichtpharmakologischen Behandlungsansätzen. Vieles, was beispielsweise als “Therapie” bezeichnet wird, hält bei näherer wissenschaftlicher Prüfung nicht Stand.
Während beispielsweise die Wirksamkeit von Musiktherapie in der Pflege von Menschen mit Demenz, was die emotionale und kognitive Stimulierung anbelangt, mittlerweile von der Forschung bestätigt worden ist, sieht das bei solchen Ansätzen wie “Aromatherapie” oder Validation schon ganz anders aus. Die wissenschaftlichen Befunde sind hier häufig ungenügend, um von effektiven Ansätzen sprechen zu können. Auch hat das fachlich betrachtet nichts mit Therapie zu tun.
Auf der anderen Seite bekommen professionell Pflegende in diesem Buch solche wissenschaftliche Instrumente an die Hand, die auch in der Praxis sehr nützlich sein können: etwa das Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI) für die Analyse von agitiertem Verhalten. Darüber hinaus steht dieses Buch ganz in der Tradition der Bradford-Schule. Ein allzu enges Verständnis von Demenz wird hier vehement abgelehnt und durch das biopsychosoziale Verständnis ersetzt. Allerdings sollte dabei auch nicht vergessen werden, dass sehr wohl auch solche Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz existieren, die sich auf Hirnschädigungen zurückführen lassen, etwa häufiger auftretendes “unsoziales Verhalten” bei Menschen mit einer Frontotemporalen Demenz.
Das Buch “Herausfordendes Verhalten bei Menschen mit Demenz. Einschätzen, verstehen und behandeln” von Ian Andrew James ist 2013 im Verlag Hans Huber erschienen. Hier der Link zum Buch.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Stephan Böhling / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.