Simone Willig hat aus ihrer Leidenschaft einen Beruf gemacht: Sie ist Musiktherapeutin. Dabei liegt ihr Schwerpunkt auf der Begleitung von Menschen mit Demenz. Marcus Klug führte mit ihr ein Interview. Wie sieht die Arbeit einer Musiktherapeutin im Pflegealltag aus?
Frau Willig, die Frage, wie Menschen mit Demenz auf sinnvolle Weise beschäftigt werden können, interessiert aktuell viele professionell Pflegende – auch im Hinblick auf Zeit und Ressourcen. Eine Form der möglichen Beschäftigung ist das Musizieren. Worauf sollten Pflegende achten, wenn sie mit Menschen mit Demenz musizieren?
Als Musiktherapeutin wünsche ich mir, dass Pflegende zunächst verstehen, was für ein bedeutsames Medium sie mit der Musik in der Hand halten – Musik ist viel mehr als Beschäftigung und Musik kann so viel mehr als ein Beschäftigungsangebot sein. Musik bietet Unterstützung im Pflegealltag auf ganz vielfältige Art und Weise. Neben dem wertschätzenden Blick auf Menschen mit Demenz, ist etwa die Sorge für ein gutes akustisches Milieu von Bedeutung und die Erkenntnis, dass jede Musik Pausen hat. Dementsprechend sollte Musik zwischendurch auch ausgeschaltet werden und eine “Dauerberieselung” vermieden werden. Auch spielt der biografische Zugang zur Musik eine bedeutsame Rolle. Und schließlich geht es bei Musik immer auch um das gemeinsame Teilen. Für Menschen mit beginnender Demenz ist das besonders wichtig. Beim Fortschreiten der Erkrankung wird bedeutsam, dass Menschen mit Demenz die Möglichkeit bekommen, sich über Musik auszudrücken. Gerade dann, wenn Affekte nicht mehr reguliert werden können, ist ein musikalischer Ausdruck hilfreich.
“Musik reduziert nachweislich Angst und Agitiertheit und kann Depressionen mindern.”
Ein Beispiel: Ein älterer Herr zeigt sogenanntes “herausforderndes Verhalten”, indem er unruhig und nervös am Tisch ruckelt. Bin ich bereit, die Ebene zu wechseln und das rhythmische Ruckeln in einen musikalischen Rhythmus zu verpacken, indem ich auf die Tischkante trommle, kann ein Dialog entstehen, der zum einen der Gefühlslage des Herrn entspricht und sie hörbar werden lässt, zum anderen die Affekte kanalisiert und umlenkt. Im Rahmen der weit fortgeschrittenen Demenz werden Instrumente bedeutsam, deren Klang körperlich fühlbar ist, wie zum Beispiel eine Sansula, die sich wunderbar im Kontext der basalen Stimulation einsetzen lässt.
Oberste Regel für musikalische Begegnungen aller Art: Keep it simple. Je klarer eine musikalische Struktur, umso einfacher wird sie verstanden. Die Musik bietet unzählige Möglichkeiten für musikalische Kurzkontakte – Sie begleiten einen Bewohner vom Zimmer in den Speisesaal? Tun Sie das mit einem Wanderlied. Der Bewohner wird weitaus stabiler laufen können – und Spaß bringt es beiden Seiten obendrein.
Sie selbst haben nach dem Abitur den damals noch weitgehend unbekannten Beruf der Musiktherapeutin für sich entdeckt. Wie kam es zu dieser Initialzündung? Und was waren für Sie wesentliche Erfahrungen auf dem Weg zur Therapeutin? Welchen musikalischen Hintergrund haben Sie?
So wie es in der Musiktherapie niemals um die Musik als solche geht, hatte mein Einstieg in die Welt der Musik gar nichts mit Musik zu tun: Ich bin als 5-jährige zum Musikmachen gekommen, weil ich den Nachhilfeschüler meiner Mutter so toll fand. Der ging nämlich im Anschluss an den Unterricht immer zur Orchesterprobe. Da wollte ich auch hin. Das Ende vom Lied: Jens, so hieß der damals 8-jährige, hörte mit dem Akkordeonspielen auf, ich legte mit dem Musikmachen richtig los.
Sehr schnell habe ich für mich entdeckt, dass der musikalische Ausdruck an unterschiedlichen Instrumenten wie unter anderem Akkordeon, Gitarre und Percussion mir hilft, mich zu entspannen und meine Gefühle auszudrücken. Kurz vor dem Abitur gab es in meinem Leistungskurs Musik eine Einheit zu Musik und Psychologie, die mich sehr fasziniert hat. Ich habe begonnen, zu recherchieren und bin dann auf das Berufsbild des Musiktherapeuten gestoßen – für mich eine wunderbare Kombination von Hobby und Beruf.
Anfang bis Mitte der 90er Jahre hat man sich in der Musiktherapie gängige tiefenpsychologische Modelle entlehnt, um Wirkungsweisen von Musik auf Körper und Geist zu beschreiben. Mit den Möglichkeiten der bildgebenden Verfahren kann man nun viel besser aufzeigen, was geschieht, wenn Musik auf das Gehirn trifft. Mich fasziniert, dass Musik als Medium in der Lage ist, Einfluss auf Verhaltensweisen des Gehirns zu nehmen, die mit Musik an sich überhaupt nichts zu tun haben. Musik vernetzt Nervenbahnen immer wieder neu miteinander und tut dies auch bei Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen und weit fortgeschrittener Demenz.
Musik ist ein neuronaler Vernetzer und das einzige Medium, das ich kenne, mit dem sich sowohl funktional als auch emotional wunderbar arbeiten lässt. Ganz praktisch: Sie können Menschen mit Demenz mit Musik zum Beispiel beim Stehen und Gehen unterstützen, sie sorgen über das Singen bei Menschen im fortgeschrittenen Stadium durch vertieftes Ein- und langsames Ausatmen für eine gute Pneumonieprophylaxe (Vorbeugung gegen Lungenentzündung; Anm. der Redaktion) und sind gleichzeitig in der Lage, über biografisch bedeutsame Lieder zum Identitätserhalt und zur emotionalen Unterstützung beizutragen. Musik reduziert nachweislich Angst und Agitiertheit und kann Depressionen mindern.
Musik als Träger von Gefühlen
Obwohl die Musiktherapie im Bereich der stationären Altenarbeit noch nicht zu den etablierten Therapien in Deutschland gehört, haben sich musiktherapeutische Verfahren in der Behandlung dementiell erkrankter Menschen bewährt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Was macht den Erfolg der Musiktherapie aus, etwa im Hinblick auf Gedächtnis und Emotionen?
Musik an sich ist ja noch keine Musiktherapie. Musiktherapie macht sich die verschiedenen Wirkprinzipien von Musik zunutze. Sie wird erst lebendig in der Begegnung im Team, in Kontakt und Beziehung zwischen der Person, die begleitet wird, der Pflege, den Angehörigen und so weiter.
Mit der Möglichkeit der bildgebenden Verfahren und der Erkenntnis um die Wirkungsweisen von Musik wachsen auch das Interesse und das Verständnis für die Besonderheiten dieses Mediums. Im letzten Jahr wurde dies durch eine Leipziger Studie untermauert, die belegt, dass das “musikalische Gedächtnis” nicht von dementiellen Veränderungen betroffen ist.
Menschen mit Demenz sind in der Lage, in Sekundenbruchteilen zu entscheiden, ob sie sich wohl oder unwohl fühlen. Die Fähigkeit, diese Entscheidung zu treffen, ist im limbischen System, dem ältesten Teil unseres Gehirns, verankert. Gerne wird dieser Teil des Gehirns auch als unser “Sitz der Emotionen“ beschrieben. Trifft nun ein Klang auf unser Gehirn, so passiert er das limbische System. Mitunter löst eine vertraute Melodie eine ganze Kette von Gefühlen und Erinnerungen aus. Jeder kennt das von sich: man hört einen Song im Radio, den man Jahre nicht gehört hat und sofort sind alle Erinnerungen an die erste große Liebe wieder lebendig.
“Stille auszuhalten und Stille zu teilen, die Geräuschkulisse auch mal zu minimieren, kann ein lohnenswertes Geschenk in der Begegnung mit Menschen mit Demenz sein.”
Gleiches gilt für Geräusche, die mit unangenehmen Erinnerungen verknüpft sind. Ein achtsamer Umgang mit Klängen ist daher mehr als wichtig für den Erhalt von Lebensqualität bei Menschen mit und ohne Demenz. Sicher kennen Sie das Phänomen, dass Menschen mit Demenz in der Lage sind, alle fünf Strophen eines Liedes zu erinnern und flüssig zu singen, auch dann, wenn sprachliche Fähigkeiten schon abgenommen haben. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, sich Dinge in kettenartigen Verknüpfungen, etwa in Reimen zu merken. Liedtexte werden im Langzeitgedächtnis gespeichert und leisten einen großen Beitrag zum Erhalt von Sprachverständnis und Sprachproduktion.
Sie selber unterstützen und beraten seit mehreren Jahren Pflegefacheinrichtungen und Kliniken rund um den verantwortungsvollen Umgang mit Musik im Pflegealltag. Wie wird der musiktherapeutische Ansatz von den Einrichtungen, die Sie beraten, angenommen? Wann macht es Sinn, mit diesem Ansatz in der Pflege von Menschen mit Demenz zu arbeiten, und wo bestehen vielleicht auch Grenzen?
Mir ist es wichtig, mich in andere Berufsgruppen einzudenken. Ich möchte verstehen, wie die Abläufe einer Einrichtung sind, nach welchen Modellen die Pflege und auch die Hauswirtschaft arbeitet. Im Zuge dessen ist ja auch das gemeinsame Buch mit meiner Kollegin Silke Kammer entstanden, indem wir anhand der Pflegeplanung und den AEDLs (Pflegemodell zur Erfassung von Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens, das ursprünglich von der Pflegewissenschaftlerin Monika Krohwinkel entwickelt worden ist; Anm. der Redaktion) ganz konkret aufzeigen, wie Musik in den Pflegealltag eingebunden werden kann – und wann sie hinderlich für die Lebensqualität von Menschen mit Demenz ist.
Ein Musiktherapeut ist der Experte für alle Fragen zur akustischen Milieugestaltung. Ich erlebe es zunehmend und vor allem mit großer Freude, dass ein Team sensibel wird für mögliche Reizüberflutungen. Vor diesem Hintergrund sagte mir einmal der Chefarzt einer gerontopsychiatrischen Station: “Wie gut, dass wir im Wohlfühlbad auf Lautsprecher aus der Wand verzichtet haben – so haben wir Prophylaxe gegen mögliche herausfordernde Verhaltensweisen betrieben“.
Stellen Sie sich vor, Sie haben Schwierigkeiten, sich zu orientieren und plötzlich sprechen Stimmen aus der Wand zu Ihnen – das mag zu mehr Unruhe und Unsicherheit beitragen. Ich bin überzeugt, dass viele der sogenannten “herausfordernden Verhaltensweisen” von Menschen mit Demenz hausgemacht sind und nicht der Erkrankung zugeschoben werden sollten. Ich mache auch die Erfahrung, dass die Teams, die musikalisch-musiktherapeutisches Wissen in ihren Alltag einbinden, selbst stressresistenter werden und anders miteinander kommunizieren.
Stille ist zudem ein wertvoller Moment. Stille auszuhalten und Stille zu teilen, die Geräuschkulisse auch mal zu minimieren, kann ein lohnenswertes Geschenk in der Begegnung mit Menschen mit Demenz sein. Auch zu verstehen, dass Musik nicht immer gut und nicht immer sinnvoll ist, kann viele Situationen entschärfen.
Auf Ihrer Website ist zu lesen, dass für Ihre persönliche musikalische Biografie solche Ouvertüren wie der “Der Kalif von Bagdad” (Adrieu Boieldieu), “Dichter und Bauer” (Franz von Suppè), “Komm Zigany” aus der Operette “Gräfin Mariza” (F. Kalman), Songs von Toris Amos, Melissa Etheridge, den Dire Straits sowie die Schlager der 1970er Jahre von Bedeutung waren. Welches Liedgut ist denn im Hinblick auf Personen von Demenz bedeutsam? Machen Sie das beispielsweise an deren Sozialisation und Generationshintergrund fest? Wie betrachten Sie das?
Meine musikalische Biografie ist sicher eine Herausforderung für alle Musiktherapie-Kollegen, die mich mal begleiten – Spaß. Wichtig ist: Ob jemand gern Musik gehört oder gemacht hat, ist KEIN Indikator für eine Musiktherapie. Musik ist jedoch immer ein Spiegel unserer Identität und deren großer Begleiter. Auch Menschen mit Demenz sind in der Lage, neue Lieder zu erlernen und haben viel Spaß daran. Welche Art von Musik sinnvoll ist, ist zum einen sicher an die persönliche Biografie gebunden.
Viel größeren Stellenwert jedoch nimmt meiner Meinung nach die Atmosphäre ein. Musik ist ein Träger von Gefühlen und Stimmungen. Wenn ich bemerke, dass ein Mensch traurig ist, kann es unpassend sein, einen fröhlichen Schlager anzubringen, auch, wenn der Song eventuell sein Lieblingslied ist.
In meiner musiktherapeutischen Profession versuche ich, immer ein Lied zu finden, dass zur Situation, zu diesem einen Moment passt. Ich gehe niemals mit einem vorgefertigten Konzept in die Begegnungen, sondern warte ab, was passiert, was mir Menschen mit Demenz erzählen oder was sie mich erspüren lassen. Danach wähle ich die Songs.
Frau Willig, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Marcus Klug. Besuchen Sie auch den Internetauftritt von Simone Willig unter http://www.simonewillig.de/.
Quellenangabe zu den Fotos:
Fotos: Heike Rössing
Simone Willig hat ihr tiefenpsychologisch ausgerichtetes Studium der Musiktherapie an der Fakultät für angewandte Therapiewissenschaften in Heidelberg mit Diplom abgeschlossen. Der Schwerpunkt ihrer musiktherapeutischen Arbeit liegt in der Begleitung von Menschen mit Demenz sowie im Bereich der neurologischen Rehabilitation. Seit mehreren Jahren unterstützt und berät Willig verschiedene Pflegefacheinrichtungen und Kliniken rund um den verantwortungsvollen Umgang mit Musik im Pflegealltag. Kontakt: info@simonewillig.de.
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.