Wie verändern sich sexuelle Bedürfnisse im Alter? Und wie verändert sich das sexuelle Verhalten von Menschen mit Demenz? Marcus Klug war zu diesen beiden Fragen im Internet unterwegs. Hier erfahren Sie, was er herausgefunden hat.
Ich erinnere mich an eine Tagung, bei der es auch eine Podiumsdiskussion gab. Auf dem Podium war auch ein älterer Mann, der etwas über das Leben mit seiner Frau erzählte. Die Frau war erst vor kurzem an Demenz erkrankt, und zwar an der Alzheimer-Demenz. Nun könnte man denken, dass seine Geschichte eher einen tragischen Verlauf annehmen würde. Der Mann erzählt, wie stark ihn die neue Situation mit seiner Frau zusetzen würde. Er fühle sich damit wirklich stark überfordert, gibt er schließlich ganz offen zu. Stattdessen hat er jedoch etwas ganz anderes erzählt. Seitdem seine Frau an Demenz erkrankt ist, wäre der Sex mit ihr noch wesentlich intensiver. Sie sei in ihrem Sexualverhalten neuerdings wesentlich freimütiger und würde die intimen Momente mehr genießen, so sein Eindruck. Für manche Personen ist diese kurze Geschichte sicherlich starker Tobak. Sexualität, Lust und Demenz – wie geht das bitteschön zusammen?
Sexualität im Alter und speziell Sexualität bei Demenz, sind immer noch Themen, die ein Tabu darstellen – zumindest wenn wir die sexuellen Bedürfnisse von älteren Menschen mit Lebensqualität und Lust verbinden. Dabei wird unsere Gesellschaft immer älter. Unser Bild von der Sexualität im Alter ist meines Erachtens völlig überholt, aber in den Köpfen sind die Klischees und Vorurteile noch fest verankert.
Für diesen Beitrag habe ich für Sie eine kleine Recherche im Netz getätigt: Ich war auf der Suche nach Wissen im Web zu der Frage, wie sich Sexualität im Alter verändert – einschließlich der Frage nach Sexualität bei Demenz.
Wie verändern sich sexuelle Bedürfnisse im Alter?
Für den Zeitabschnitt zwischen Lebensmitte und Pflegeheim interessierten sich die Sozial- und Sexualwissenschaften über lange Zeit nur wenig. Grund dafür ist die Annahme, dass Menschen in diesem Alter ihre Erwachsenenidentität gefunden haben, meist in stabilen Familien- und Berufssituationen leben, damit mehr oder weniger zufrieden sind und dem Ruhestand entgegenstreben. Manifestiert sich die Sexualität in dieser Lebensphase nicht als klinisches Symptom mit Krankheitswert, findet sie seitens der Wissenschaft kaum Beachtung.
“Von allen Umschreibungen für Geschlechtsverkehr gefällt mir am besten die polynesische Formulierung: `Nahe bei Gott sein´.” Günther Jursch (*1927), deutscher Transaktions-Analytiker
Tatsächlich haben sich aber in den letzten Jahrzehnten unsere Lebensumstände – auch im Alter – stark verändert. Wir leben immer länger. Es gibt nicht wenig Menschen, die auch im höheren Alter noch ihren Beruf wechseln, in eine andere Stadt ziehen oder eine neue Beziehung eingehen. Die Welt, in der wir leben, wird tendenziös unsicherer und fragiler: stabile Familien- und Berufssituationen lösen sich zunehmend auf. Auf der anderen Seite gibt es – aufgrund der demographischen Entwicklung – immer mehr ältere Menschen, während weniger junge Menschen nachrücken. Das hat natürlich auch einen Einfluss auf unsere Sexualität: Wer häufiger seine Beziehung wechselt, ist auch im Alter sexuell agiler. Gleichzeitig wirken sich unsichere Umweltverhaltnisse auch auf unsere Psyche und sexuelle Lust aus: Wer beispielsweise viel Stress im Beruf hat, hat unter Umständen auch weniger Lust auf Sex.
Betrachtet man diese veränderten Rahmenbedingungen in unserem Leben, so wird der Untersuchungsgegenstand der Alterssexualität auch wieder spannender für die Forschung. Die zweite Lebensphase im Alter verläuft eben in vielen Fällen heutzutage nicht mehr in so ruhigen Bahnen. Begriffe wie der “(Un-)Ruhestand” zeugen von dieser Entwicklung. Dementsprechend gewinnt auch das Thema der Sexualität im Alter wieder für die Forschung an Bedeutung.
Ich habe beispielsweise im Internet eine empirische Studie entdeckt, in der insgesamt 641 Männer und 857 Frauen zwischen 45 und 91 Jahren dazu befragt worden sind, inwieweit Sexualität bis ins höchste Lebensalter noch ein relevantes Thema bleibt. Die Resultate zeigen, dass die Sexualität tatsächlich bis ins höchste Alter ein relevantes Thema bleibt. Allerdings besteht eindeutig eine Differenz zwischen dem lebendigen sexuellen Interesse und der tatsächlichen sexuellen Aktivität.
Außerdem wissen wir viel über die sexuellen Funktionen im Alter. Mit steigendem Alter verringern sich die sexuellen Aktivitäten, die sexuellen Reaktionen verlangsamen sich und verlieren teilweise an Intensität. Daher erfordert der Geschlechtsakt im Alter häufig mehr Zeit und intensivere Stimulation. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund zudem, dass mit zunehmendem Alter eine größere Varianz im sexuellen Verhalten und Erleben festgestellt worden ist – dies gilt vor allem für Frauen.
Sex hat ja bekanntlich auch viel mit dem Kopf zu tun. Der Einfluss der Psyche auf die weibliche Sexualität ist dem Sexualmediziner Volkmar Sigusch zufolge auch der Grund, warum in Umfragen regelmäßig ein so hoher Prozentsatz der befragten Frauen sexuelle Probleme angibt: Ursache sind nämlich in längst nicht allen Fällen körperliche Störungen, sondern häufig fehlendes emotionales Wohlbefinden. Dieser Effekt verstärkt sich im Alter: Emotionales Wohlbefinden ist neben körperlichen Aspekten ein sehr wichtiger Einflussfaktor für die Sexualität im Alter.
Wie verändert sich das sexuelle Verhalten von Menschen mit Demenz?
Bei Demenz kann es zu einer Enthemmung im Sexualverhalten kommen; dies hat auch etwas mit jenen Hirnfunktionen zu tun, die im Alltag dafür sorgen, dass wir unser Verhalten mehr kontrollieren; dafür ist unter anderem der präfrontale Cortex zuständig – also der vordere Hirnlappen (siehe dazu auch die Abbildung oberhalb dieses Abschnitts). In der Frühphase einer Alzheimer-Demenz kann diese Enthemmung durchaus auch als positiv wahrgenommen werden. Ältere Ehepaare, von denen ein Partner an Demenz erkrankt ist, erleben den Sex unter Umständen intensiver und werden mit einer Verhaltensweise ihres Partners konfrontiert, die sie so vielleicht zuvor noch nicht erlebt haben. Wobei ich dabei eher an Männer denken muss, die mit ihrer Frau Sex haben – so wie ich das ja bereits zu Beginn dieses Beitrags anhand von einer kurzen Geschichte veranschaulicht habe. Was beim Sex im Kopf der Frau dieses Mannes wohl vor sich geht, ist dabei indes eine andere Frage: die Leserinnen unter Ihnen könnten dazu jetzt an dieser Stelle mit Sicherheit mehr schreiben.
Der überwiegende Teil der Forschung zur Beziehung von Sexualität und Demenz ist allerdings eher pathologisch geprägt. Enthemmung kann daher auch sehr negativ ausgelegt werden. Ein Beitrag aus dem Netz zur “Sexualität im Alter bei Demenz” von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft bringt diesen negativen Aspekt am Fallbeispiel auf den Punkt: “Franz T. (62 Jahre) leidet an Frontotmeporaler Demenz. Sein Sexualtrieb ist massiv ausgeprägt. Die Ehefrau kann sich seiner sexuellen Übergriffe nicht mehr erwehren und sucht Hilfe beim behandelnden Arzt.” Bemerkenswert an diesem Fallbeispiel ist neben dem Hinweis auf die Frontotemporale Demenz ebenso der Hinweis auf Aggressivität.
Aggressivität spielt bei Männern in Hinblick auf Sexualität eine wesentlich dominantere Rolle als bei Frauen, was vor allem evolutionsbiologisch bedingt ist. Männer mit Demenz können somit auch verstärkt aggressiv auftreten, wenn ihr Sexualtrieb nicht ausreichend befriedigt wird, wie wir unter anderem aus der Verhaltensforschung wissen.
Folglich ist dann auch immer wieder von “Sexuellen Verhaltensstörungen bei Demenz” die Rede. Die Liste von Fachbegriffen in diesem pathologischen Zusammenhang ist lang, unter anderem:
- Hypersexualität bei Demenz
- Nicht-kognitive Verhaltensauffälligkeiten
- Sexuelle Entblößung bei Demenz
- Sexuell herausforderndes Verhalten bei Demenz
- Zwanghaftes Onanieren bei Demenz
Ich möchte diese “Verhaltensauffälligkeiten” nicht kleinreden, jedoch habe ich mich auf der anderen Seite auch gefragt, ob Sexualität nicht auch im positiven Sinne auf die Lebensqualität von Menschen mit Demenz einwirken kann. Tatsächlich habe ich solche Studien im Web eher im angelsächsischen Raum entdeckt. Davon gibt es allerdings nur sehr wenige. So wird beispielsweise in einer empirischen Studie der International Psychogeriatric Association von 2012 betont, dass Menschen bis ins hohe Alter Sexualität einen hohen Stellenwert beimessen und dass die Bedeutung der Sexualität dementsprechend auch nicht schlagartig mit dem Eintreten einer Demenz verschwindet.
Die Frage bleibt indes, wie wir in Zukunft mit diesem Phänomen umgehen wollen, und inwieweit wir selber als Gesellschaft einen offeneren Umgang mit Sexualität – gerade auch im Alter – kultivieren wollen, wenn es immer mehr ältere Menschen gibt. Denn Sexualität hat auch immer etwas mit uns selbst zu tun.
Die Quellen und Studien im Überblick:
- Benbow, S. M.; Beeston, D. (2012): Sexuality, aging, and dementia. Abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://journals.cambridge.org/action/displayFulltext?type=1&fid=8573625&jid=IPG&volumeId=24&issueId=07&aid=8573623
- Bucher, T.; Buddeburg, C.; Hornung, R. (2003): Sexualität in der zweiten Lebenshälfte. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://www.buddeberg-praxis.ch/_pdf/Sexualitaet_2_Lebenshaelfte.pdf
- Faust, F. (2012): Sexuelle Verhaltensstörungen bei Demenz. Abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://www.psychosoziale-gesundheit.net/pdf/Int.1-Sexuelle_Verhaltensstoerungen_bei_Demenz.pdf
- Scheib-Berten, A. (2010): Sexualität im Alter bei Demenz. Bemerkungen zum Nachdenken und Handeln. Abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://www.alzheimer-bw.de/fileadmin/AGBW_Medien/Dokumente/Demenzen/Menschen_mit_Demenz_begleiten/Sexualit%C3%A4t%20im%20Alter%20bei%20Demenz.pdf
- van der Vight-Klußmann, R. (2014): (Kein) Sex im Altenheim? Körperlichkeit und Sexualität in der Altenhilfe. Leseprobe abrufbar unter folgender Online-Quelle: http://bsimgx.schluetersche.de/upload7272033904065757611.pdf
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Ian McKenzie / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.