Das Lehrbuch “Irren ist menschlich” hat die Psychiatriereform in Deutschland nachhaltig beeinflusst, als es im Jahre 1978 in der ersten Auflage erschien. Es hat klargemacht, dass es auf die Haltung ankommt, wie wir uns Menschen mit chronischen Krankheiten und psychischen Beeinträchtigungen annähern. Dies gilt insbesondere auch für die Pflege von Menschen mit Demenz: Was hat Demenz mit uns persönlich zu tun?
Die Psychiatriereform ist ein bis heute andauernder Prozess der Umstrukturierung der psychiatrischen Landschaft in Deutschland mit dem Ziel, die Situation der psychisch erkrankten Menschen möglichst nachhaltig zu verbessern. In Deutschland wird heute als Ausgangspunkt für diese Reform die 1975 veröffentlichte Psychiatrie-Enquête (“Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland”) gesehen. In dieser Phase wurde auch die erste Auflage des wegweisenden Buches “Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie” veröffentlicht (1978), an dem unter anderem der Arzt und Psychiater Klaus Dörner sowie die Psychologin Ursula Plog beteiligt waren.
Entscheidend an dem Paradigmenwechsel, der auch durch dieses Lehrbuch eingeläutet wurde, ist der veränderte Blickwinkel auf die Beziehung zwischen Betroffenen und professionellen Helfern in Medizin, Psychiatrie/Psychotherapie und Pflege. Denn in dem Buch “Irren ist menschlich” werden Betroffene nicht als Objekte betrachtet, sondern der Blick auf die zuvor stark vernachlässigte Subjektivität des Menschen gelenkt – einschließlich einer wesentlich kritischeren Eigenwahrnehmung aller am Hilfeprozess Beteiligten (Angehörige, Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Pflegende usw.).
So heißt es im Vorwort zu der Frage, was der Titel “Irren ist menschlich” bedeuten soll: “Es soll uns daran erinnern, dass die Psychiatrie ein Ort ist, wo der Mensch besondes menschlich ist; d. h. wo die Widersprüchlichkeit des Menschen oft nicht auflösbar, die Spannung auszuleben ist: So das Unmenschliche und Übermenschliche, das Banale und Einmalige, Oberfläche und Abgrund, Passivität und Aktivität, das Kranke und Böse, Weinen und Lachen, Leben und Tod, Schmerz und Glück, das Sich-Verstellen und Sich-Wahrmachen, das Sich-Verirren und Sich-Finden. Die Frage `Was ist ein psychisch Kranker´ ist fast so allgemein wie die Frage `Was ist ein Mensch?´” (Dörner, Plog et. al. 2009: 11).
Aufbau und Inhalte
Grundsätzlich wurde das Lehrbuch “Irren ist menschlich” seit dem Erscheinen der ersten Auflage im Jahre 1978 immer wieder neu aufgelegt und durch weitere Inhalte ergänzt. Die 22. Auflage und damit vorerst letzte Auflage erschien 2013. Nach einer einführenden Gebrauchsanweisung folgen 15 weitere Kapitel mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die neben psychiatrischen Aspekten auch Ausführungen zu soziotherapeutischen, körpertherapeutischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden beinhalten, sowie ebenso medizinische Aspekte, etwa epidemologische Aspekte, oder auch die Frage nach wirksamen Medikamenten, die beispielsweise bei einer Depression eingesetzt werden können.
Die Kapitel im Überblick
- 1: Der sich und Andere helfende Mensch
- 2: Der geistig sich und Andere behinderte Mensch
- 3: Der junge Mensch (Kinder- und Jugendpsychiatrie)
- 4: Der sich und Andere liebende Mensch (Schwierigkeiten der Sexualität)
- 5: Der sich und Andere fügende Mensch (Schizophrenie)
- 6: Der sich und Andere aufbrechende Mensch (Manie)
- 7: Der sich und Andere niedergeschlagene Mensch (Depression)
- 8: Der sich und Andere versuchende Mensch (Abhängigkeit)
- 9: Der sich und Andere bemühende Mensch – neurotisches Handeln, Persönlichkeitsstörungen und Psychosomatik
- 10: Der sich und Andere tötende Mensch (Krise, Krisenintervention)
- 11: Der für sich und Andere gefahrvolle Mensch (die forensische Seite)
- 12: Der sich und Andere körperkränkende Mensch (körperbedingte Psychosyndrome)
- 13: Der alte Mensch
- 14: Spielräume (Ökologie der Fremd- und Selbsthilfe)
- 15: Wege der Psychiatrie (Psychiatrie-Geschichte)
Neu hinzugekommen an dem Buch sind erstmals auch die forensische Psychiatrie (Kapitel 11) und ein Kapitel zur Gerontopsychiatrie, das insbesondere in der Pflege von Menschen mit Demenz recht aufschlussreich sein dürfte: “Der alte Mensch” (Kapitel 13).
Entscheidend ist für mich aber die Perspektive: nämlich die Eigenwahrnehmung aller am Hilfeprozess Beteiligten. Dies wird auch immer wieder in dem Buch betont. So gibt es beispielsweise zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder einzelne Gesprächssituationen, in denen Dialoge zwischen Helfern und Betroffenen aus unterschiedlichen Perspektiven reflektiert werden, beispielsweise Gespräche zwischen Patienten und Therapeuten oder auch zwischen Angehörigen und Ärzten. Außerdem existieren Übungen, die darauf abzielen, die Perspektive der Betroffenen besser zu verstehen.
Beispiel für eine Übung zur Depression (gesprächstherapeutischer Aspekt): “Bitten Sie eine Gruppe von Freunden oder Team-Kollegen, jeder solle beschreiben, wie er sich depressiv fühlt. Die Vollständigkeit des Gruppen-Ergebnisses wird Sie überraschen” (Dörner, Plog et. al. 2009: 199).
Besonders wichtig ist auch der Gedanke, dass Begegnung in der Psychiatrie immer Begegnung von mindestens drei Menschen ist: dem Betroffenen, dem Angehörigen und dem professionell Helfenden, in der Versorgung von Menschen mit Demenz also beispielsweise die professionelle Pflegekraft.
Wenn wir von Kränkung in einer derartigen Beziehungskonstellation sprechen, sollten wir uns außerdem einmal genauer mit der Frage auseinandersetzen, von welcher Kränkung eigentlich die Rede ist? Bei Demenz sprechen wir ja von einer “Körperkränkung” im Sinne von “hirnorganisch Kranken”. Aber genauso gut kann es sein, dass weitere Kränkungen hinzutreten.
Vier Arten von Kränkungen
In dem Lehrbuch “Irren ist menschlich” werden insgesamt vier Arten von Kränkungen unterschieden:
- A: Selbstkränkung: Beispielsweise Menschen mit schizophrenen Methoden der Problembeantwortung, wobei die Beziehung zum Selbst wesentlich beeinträchtigt ist.
- B: Beziehungskränkung: Neurotische, psychosomatische, abhängige, suizidale, sexuell oder persönlichkeitsgestörte Menschen, die bei der Lösung ihrer Lebensprobleme ihre Bezeihung zu sich und anderen lebensunfähig gemacht haben.
- C: Körperkränkung: Hirnorganisch Kranke, aber auch ohne Hirnbeteiligung an ihrem Körper Leidende sowie geistig behinderte Menschen.
- D: Lebensalterskränkung: Junge bzw. alte Menschen, deren Umgang mit lebensaltersgemäßen Schwierigkeiten zu einer der Kränkungstypen A, B oder C führt (auch Menschen mit Demenz).
Bezug zur Pflege von Menschen mit Demenz
Was mich persönlich bei der Lektüre von “Irren ist menschlich” im Zusammenhang zur Pflege von Menschen mit Demenz besonders zum Nachdenken angeregt hat, ist folgende Frage: “Ich habe auf ewig ein geschädigtes Hirn, du nicht. Also, was kannst du mir überhaupt sagen?”
Die Konsequenz aus dieser Frage bedeutet ja, dass wir nur dann ein Grundverständnis für die Perspektive der Betroffenen entwickeln können, wenn wir uns mit unseren eigenen Hirnbeeinträchtigungen tiefergehend auseinandersetzen. Eine mögliche Übung für professionell Pflegende und Angehörige könnte vor diesem Hintergrund darin bestehen, nach Beispielen zu suchen, wo uns selber “der Boden unter den Füßen weggezogen worden ist”, denn all “diese Situationen haben (für die Betoffenen= Anmerkung des Verfassers) gemeinsam, dass mein Boden, der mir bisher Halt und Vertrauen gab, auf den ich mich blind, weil körperlich, stützte, unabänderlich (irreversibel) verloren gegangen ist” (Dörner, Plog et. al. 2009: 377).
Haben wir nicht alle als Pflegende manchmal im Alltag das Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird?
Fazit
Die Denkimpulse, die von “Irren ist menschlich” ausgehen, sind wirklich nachhaltig, wenn wir uns ernsthaft und intensiver mit den Inhalten dieses wegweisenden Buches beschäftigen. Wir verstehen nicht nur die Perspektive von den Betroffenen und deren Angehörigen besser, sondern auch von den anderen professionellen Helfern, die so wie wir als professionell Pflegende an diesem Prozess gleichermaßen beteiligt sind. Ganz wesentlich ist dabei die Eigenwahrnehmung: Was hat das eigentlich mit mir zu tun – der demenzkranke Mensch, den ich pflege? Oder anders gefragt: “Ich habe auf ewig ein geschädigtes Hirn, du nicht. Also, was kannst du mir überhaupt sagen?”
Das Buch “Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie” von unter anderem Klaus Dörner und Ursula Plog ist 2013 in der 22. Auflage im Psychiatrie-Verlag erschienen. Hier der Link zum Buch.
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.