“Es war eine wirklich gespenstische Situation gestern Nacht, ganz ehrlich. Die Räume im Krankenhaus waren überfüllt mit Patienten, aber das Pflegepersonal und die Ärzte waren so gut wie nicht auffindbar”, berichtet die Tochter. “Das kann ich mir kaum vorstellen. Und was hast Du unternommen?”, fragt der Vater. “Ich habe mich am Ende doch dazu entschieden, Mutter mit nach Hause zu nehmen.” Die Zukunft der Pflege: Was kommt da eigentlich in der Versorgung auf uns zu?
Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um meine persönliche Sicht – angelehnt an den Vortrag “Pflegereiche Zukunft – Wir sind dabei!” von Prof. Christel Bienstein auf dem diesjährigen Niederrheinischen Pflegekongress. Es ist der 25.09.2013. Der Eröffnungsvortrag von Frau Bienstein beginnt heute pünktlich um 10.15 Uhr.
Für alle, die Frau Bienstein nicht kennen: Frau Prof. Christel Bienstein ist Pflegewissenschaftlerin und vor allem bekannt für ihr Engagement in der Pflege und die Leitung des Departments für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. Sie macht das jetzt schon recht lange. Viel Erfahrung und so. Außerdem wurde sie im Juni 2004 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Das spricht definitiv für sich.
Als ich mir heute noch einmal in Ruhe den Vortrag von ihr angeschaut habe, ist mir schließlich ein Licht aufgegangen. Einige Beispiele und Fakten zu der Zukunft der Pflege aus diesem Vortrag lassen sich wunderbar zu filmartigen Gesprächsminiaturen zusammenfügen. Also überlegte ich mir die ganze Zeit, was wohl der Aufhänger für diese Miniaturen sein könnte. Meine Frage im Vorfeld lautete dabei in etwa so: An welchem Beispiel wird die Versorgungsproblematik besonders plastisch und evident?
Das Wort “Evidenz” lässt Sie übrigens ganz einfach übersetzen: Evidenz bedeutet, so Götz Werner – Gründer und Aufsichtsratsmitglied des Unternehmens dm-drogerie markt–, “dass die Zukunft noch nicht materiell da ist”. Jedoch können Sie sich diese Zukunft vorab im Denken erschließen, und zwar am besten an einem konkreten Beispiel.
Ich suchte also im Vortrag von Bienstein nach einem solchen konkreten Beispiel, nach einem einleuchtenden Bildszenarium, das quasi besonders plastisch vor Augen hält, mit welchen Problemen wir es aktuell in der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen zu tun haben, und welche Probleme uns möglicherweise zukünftig noch erwarten. Dann kam mir sozusagen der buchstäbliche Aha-Effekt – nämlich die aktuelle Versorgungsproblematik in den meisten Krankenhäusern hierzulande während der Nacht: eine gespenstische Situation.
Die Nacht im Krankenhaus: eine gespenstische Situation
Zwei Pfleger, die beide im Krankenhaus arbeiten, unterhalten sich miteinander. Der eine muss schließlich gegenüber seinem Kollegen eingestehen, dass er einfach nicht mehr gedächtnismäßig Schritt halten kann. “Stell dir vor”, erzählt er ganz offenherzig gegenüber seinem Kollegen. “Ich kann mir die ganzen Namen von den Leuten einfach nicht mehr richtig merken, die hier Tag ein Tag aus eingeliefert werden.” “Warum das denn nicht?”, erwidert der Kollege daraufhin eher skeptisch. “Seit heute Morgen sind alle Patientinnen von gestern Nacht quasi wie von der Erdoberfläche verschwunden.” “Gestern Nacht habe ich mich dagegen noch mit einer älteren Dame auf Zimmer 403 in der dritten Etage unterhalten. Aber heute liegt da einfach eine andere Frau auf dem Bett, und so geht das hier schon seit geraumer Zeit.”
Die Fakten dazu aus dem Vortrag von Frau Bienstein. Es geht dabei um die durchschnittliche Verweildauer der Patientinnen in deutschen Krankenhäusern – gemessen von 1989 bis 2011:
- 1989: 13,7 Tage
- 1994: 12,0 Tage
- 2011: 7,7 Tage
- Und in der Zukunft? Weitere Reduktion? Bis zu welcher Grenze?
Frau Bienstein kommt außerdem in ihrem Vortrag auf eine Studie zu sprechen (u. a. von Prof. Dr. Angelika Zegelin und Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik). Folgender Titel: “Die Nacht im Krankenhaus aus der Sicht der Pflegenden. Vom Lernprojekt zum Forschungsvorhaben“ (1993). Der Schwerpunkt dieser empirischen Studie bildet auch die Basis für die Wiederholungsstudie “Die Nacht in deutschen Krankenhäusern”, die schon bald veröffentlicht wird, so Bienstein.
Wie hat sich die Situation während der Nacht in den meisten deutschen Krankenhäusern seit der ursprünglichen Studie von 1993 tatsächlich verändert, was die Versorgungssituation anbelangt? Frau Bienstein weist zunächst auf das personelle Problem in vielen deutschen Krankenhäusern hin: Zu wenig Personal, zu viele Patienten. Viele wissen das wahrscheinlich von Ihnen nur allzu gut. Aber die Details dazu – das herausragende Beispiel mit der Nacht im Krankenhaus – das ist schon ein wenig gespenstisch, oder?
Es ist ein meiner Ansicht nach alarmierendes und hoffentlich aufrüttelndes Beispiel – durchaus auch stellvertretend für andere Bereiche unseres Alltags in der Pflege. Droht die Unterversorgung? Wer wird sich um die pflegebedürftigen Menschen in der Zukunft kümmern, wenn immer weniger junge Menschen nachkommen? Stichwort: “Demografischer Wandel in Deutschland”. Haben Sie sich das schon einmal persönlich gefragt?
Schließlich nennt Frau Bienstein in ihrem Vortrag einige Zahlen, die das Problem im Krankenhaus noch einmal untermauern. “Wir wissen jetzt schon aufgrund von verschiedenen Studien, dass ein Personalmangel da ist. Ich kenne einige Unternehmen, große Träger von Krankenhausketten, die aktuell ein Verhältnis haben von einem Arzt auf ungefähr zwei Pflegende (exakt 1,75; Anm. der Redaktion). Wir hatten im Jahre 1990 noch einen Arzt und vier Pflegende”, so Bienstein in ihrem Vortrag. Vier Pflegende kamen damals also noch auf einen Arzt und heute sind es bereits weniger als die Hälfte. Und diese wenigen Personen sind zuständig für ganz viele Menschen, die da in den Betten in den Krankenhäusern liegen, die auf ihre Operation warten oder einfach gerade einen Kaffee zu sich nehmen.
“Sie können sich ausrechnen”, so Bienstein, “was das bei der Zunahme der Multimorbidität (= Patienten mit Mehrfacherkrankungen; Anm. der Redaktion) im Krankenhaus bedeutet.” Wie sollen Patienten vor dem Hintergrund dieser Versorgungssituation zukünftig sicher durch das Krankenhaus kommen, wenn sich nichts an dieser Situation verändern wird? Nichts an der personellen Situation und Versorgung. Nichts an der tendenziösen Unterversorgung.
Stellen Sie sich vor diesem Hintergrund gerade auch die Menschen mit solchen chronischen Krankheiten wie Alzheimer vor. Auch die liegen ja zum Teil im Krankenhaus und irren im schlimmsten Fall des Nachts in den Gängen umher. Und es werden zunehmend wesentlich mehr, wenn wir beispielsweise den Ergebnissen des Welt-Alzheimer-Berichts für 2013 unser Vertrauen schenken dürfen. 115 Millionen Demenzkranke, 277 Millionen Pflegebedürftige: So die Prognose des Welt-Alzheimer-Berichts für 2050. Die Zahl Demenzkranker soll sich bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich also weltweit verdreifacht haben. Verdreifacht. Sie haben richtig gehört.
“Ich habe mich in dieser Nacht am Ende doch dazu entschieden, Mutter mit nach Hause zu nehmen. Das schien mir der einzige mögliche Ausweg in dieser Situation zu sein. In dieser furchtbaren Nacht für Mutter im Krankenhaus”, sagt die Tochter zu ihrem Vater. Stille am Telefon.
Frau Bienstein wäre allerdings nicht Frau Bienstein, wenn Sie uns in ihrem Vortrag auf dem diesjährigen Niederrheinischen Pflegekongress einfach mit den Problemen in der zukünftigen Versorgung im Regen stehen gelassen hätte. Im Gegenteil: Ihr Vortrag war ein konstruktiver, positiver und lösungsorientierter Ansatz – ohne die Augen vor der Versorgungsproblematik verschlossen zu haben.
Mein persönliches Bild von der Nacht im Krankenhaus ist dabei nur ein mögliches stellvertretendes Bild für die Antizipation der Zukunft in der Pflege. Welches Bild ist Ihres?
Quellenangaben zu den Fotos:
Foto: Austrianfilm / www.flickr.com
Foto: sa ma te / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.