Der Beitrag stellt die letzte Folge in der Reihe „Blogs über Demenz“ dar. Es geht um den gesellschaftlichen Umgang mit Demenz und insbesondere um tiefergehende Einsichten in die Natur des Erinnerns und Vergessens. Dabei spannen wir den Bogen von den medizinischen Ursprüngen der Alzheimer-Erkrankung bis zur heutigen beschleunigten Gesellschaft.
Ein Blick in die Medizingeschichte klärt uns darüber auf, wie die Gesellschaft zu anderen Zeiten mit fortschreitendem geistigen Verfall und schwerem Vergessen im Alter umgegangen ist. Die Geschichte der Alzheimer-Krankheit geht auf das Jahr 1906 zurück, das Jahr, in dem der deutsche Arzt Dr. Alois Alzheimer in Fachkreisen erstmals seine „Krankheit des Vergessens“ vorstellte. Die Geschichte war eng verknüpft mit dem persönlichen Schicksal einer 50 Jahre alten Frau namens Auguste Deter. Diese alte Frau lebte bis zu ihrem Tode im Jahre 1906 in Frankfurt in einer Nervenklinik und starb schließlich – aufgrund ihrer schweren Gedächtnisprobleme – in völliger Verwirrtheit.
Nach ihrem Tod ließ sich Alzheimer von Emil Sioli das Gehirn der verstorbenen Patientin zuschicken und führte weitere Untersuchungen daran durch. Dieser Fall steht nicht nur im engen Zusammenhang zur Medizingeschichte, sondern sensibilisiert uns auf der anderen Seite auch für den gesellschaftlichen Umgang mit Demenz: Dass das Gedächtnis plötzlich nicht mehr funktioniert, dass wir durch Demenz quasi zwangsentschleunigt werden, passt bis zum heutigen Tag nicht in das Bild einer Gesellschaft, deren oberste Prinzipien auf möglichst hoher Leistungsfähigkeit, Disziplin und Geschwindigkeit basieren.
Einsichten in die Natur des Erinnerns und Vergessens
„Menschen mit Demenz sind Symbolfiguren der Langsamkeit“, so der Soziologe Reimer Gronemeyer. In gewisser Weise konfrontiert uns Demenz mit der Kehrseite unserer eigenen ökonomischen Wunschvorstellung: der Wunschvorstellung einer absolut beschleunigten Gesellschaft. Diese Wunschvorstellung basiert auf der Annahme, dass es möglich sei, unsere Leistungsfähigkeit immer weiter zu optimieren, ohne genauer darüber nachzudenken, dass Vergessen und Entschleunigung für unser Gehirn genauso lebensnotwendig sind wie die Luft zum Atmen. Dabei steht die beschleunigte Gesellschaft im direkten Zusammenhang zum Ideal eines perfekten Gedächtnisses, wie wir in den folgenden Ausführungen noch genauer sehen werden. Die Vorstellung eines perfekten Gedächtnisses basiert auf der Prämisse, dass Denken mit der Informationsverarbeitung eines Computers vergleichbar sei. Und da ein Computer eine Unmenge an Informationen verarbeiten kann, wird im technischen Sinne unterstellt, dass wir es mit einem “perfekten Gedächtnis” zu tun hätten. Für einen Computer ist nämlich jede noch so abgelegene Information jederzeit wieder abrufbar.
Anzumerken ist vorab, dass sich Menschen, die an Demenz erkrankt sind, diesen Zustand so nicht ausgesucht haben. Das Vergessen befindet sich bei Demenz – gerade in der mittleren bis späten Phase – in einem fortschreitenden Stadium des schweren geistigen Verfalls. Mit der Folge, dass sich demenzkranke Menschen irgendwann nicht einmal mehr an ihre engsten Familienmitglieder erinnern und sich selbst in ihrer eigenen Wohnung nicht mehr zurechtfinden: das einst Vertraute erscheint somit im zunehmenden Maße als Fremdes. Aber dieses Extrem fällt zugleich auch mit grundlegenden tiefergehenden Einsichten in die Natur des Erinnerns und Vergessens zusammen.
Für unser Gehirn sind Schnelligkeit und Merkfähigkeit nicht die obersten Prinzipien – ganz im Gegensatz zu Computern, deren Evolution ganz anders verlief. Bei Computern geht es vorwiegend um die Geschwindigkeit und um die formale Präzision in der Verarbeitung von Daten und Informationen. Und im Laufe dieser Evolution wurden Computer dabei immer schneller. In der Evolutionsgeschichte des Menschen spielte dagegen das Kurzzeitgedächtnis – also die Merkfähigkeit und Schnelligkeit im Erfassen und Verarbeiten von Informationen – nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, weil diese Fähigkeiten für die natürliche Selektion nicht sonderlich wichtig waren. Die Evolution von Computern – was die Geschwindigkeit und formale Präzision in der Verarbeitung von Informationen anbelangt – ist mit der menschlichen Evolution nicht kompatibel. Unser Gehirn ist nämlich mit dieser Geschwindigkeit absolut überfordert. Aber warum spielen Beschleunigung und der Anspruch zur Perfektion in der Gedächtnisbildung dennoch so eine große Rolle, wenn wir heutige gesellschaftliche Maßstäbe und technologische Entwicklungen zugrunde legen?
Das perfekte Gedächtnis
Stellen Sie sich ein absolut perfektes Gedächtnis vor. Stellen Sie sich außerdem eine Maschine oder ein vernetztes Computersystem vor – so wie das Internet. Im Internet liegen gigantische Mengen an Daten und Informationen vor. Und diese Daten und Informationen sind jederzeit abrufbar, wenn sie einmal von diesem gigantischen Informationsnetzwerk erfasst und diskret abgespeichert worden sind.
Bemerkenswerterweise gab es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche in der Forschung, unser Gehirn und die Funktionsweise unseres Gedächtnisses mit Maschinen zu vergleichen. So veröffentlichte beispielsweise der Mathematiker John von Neumann im Jahre 1958 die Studie „Die Rechenmaschine und das Gehirn“, in der er die Funktionen des menschlichen Gehirns mit einer Rechenmaschine verglich. Entscheidend ist aber bei diesem Vergleich, dass unser Gehirn und unser Gedächtnis diverse Eigenheiten besitzen, die sich mit den Funktionsprinzipien eines Computers nicht wirklich vergleichen lassen. Unser Gehirn ist zwar viel langsamer als ein Computer, viel unpräziser und weniger merkfähig, auf der anderen Seite aber auch viel raffinierter und komplexer. Beispiele für die ungemeine Komplexität des menschlichen Gehirns sind die Phantasie und Vorstellungsgabe, das Reflexionsvermögen und die Sprachfähigkeit des Menschen, die den Menschen von allen anderen Artgenossen unterscheidet. Das perfekte Gedächtnis ist dabei gar nicht wünschenswert.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie könnten kein Detail aus Ihrem Leben vergessen – Sie könnten sich also zu jeder Zeit an noch so jedes winzige Detail aus Ihrer Vergangenheit erinnern und das in jedem Moment Ihres Lebens. Dieses totale Gedächtnis würde Ihr Leben tatsächlich unendlich erschweren. Gerade um Platz für wichtige Ereignisse im Leben zu haben, um Entscheidungen zu treffen und alltagsfähig zu sein, brauchen wir genügend Spielraum innerhalb unseres Gedächtnisses. Und den schaffen wir nicht dadurch, dass wir uns beispielsweise noch daran erinnern können, welche Farbe unsere Socken hatten, die wir vor zwei Wochen getragen haben oder welche Nummer die Buslinie aufwies, die wir vor zehn Jahren im Türkeiurlaub auf dem Weg nach Istanbul genommen haben. Es geht also eher um den optimalen Ausgleich zwischen Erinnern und Vergessen. Und Vergessen wirkt psychisch entlastend, wie auch die Hirnforschung empirisch bestätigt hat.
Der Gedächtniskünstler Schereschewski
Es gibt einen sehr interessanten Fall von einem Mann mit einer absolut übernormalen Gedächtnisfähigkeit: und zwar der Fall des Gedächtniskünstlers Schereschewski. Dieser erstaunliche Mann wurde über mehrere Jahre von dem russischen Psychologen A. R. Lurija beobachtet. Schereschewski war ursprünglich Reporter, fiel aber seinen Kollegen im besonderen Maße dadurch auf, dass er sich niemals Notizen machte und sich Instruktionen und Daten ohne Probleme merken konnte, auch wenn diese noch so kompliziert waren. Seine enorme Gedächtnisbegabung basierte auf der Fähigkeit der Synästhesie.
Mit diesem Begriff bezeichnet man den Umstand, dass mit einem Reiz – etwa einem Wort – ein Reiz aus einem anderen Sinnesgebiet assoziativ verbunden wird – etwa Farben. Tatsächlich stellte sich aber später heraus, dass Schereschweski diese unglaubliche Fähigkeit immer mehr Probleme bereitete: Denn er konnte einfach nichts vergessen – sein Gedächtnis war buchstäblich vollgestopft mit allen möglichen Informationen. Schließlich entdeckte er aber glücklicherweise eine Methode, die ihn kognitiv entlasten sollte: nämlich die schwarze Tafel. Die Informationen, die vergessen werden sollten, waren in seiner Phantasie auf einer schwarzen Tafel geschrieben. Und dann beobachtete er sich dabei, wie er diese Informationen auf der Tafel einfach wegwischte. Der Trick funktionierte.
Aber was verbirgt sich dann hinter dem Ideal eines absolut perfekten Gedächtnisses? Wieso ist es beispielsweise so wichtig, möglichst viele Daten und Informationen von Menschen zu sammeln, zu systematisieren und jederzeit abrufen zu können? Der Umgang mit Daten und Informationen im Internet steht häufig für den Versuch, möglichst viele Daten und Informationen von Menschen zu gewinnen, um Prozesse – insbesondere im ökonomischen Sinne – zu optimieren und zu beschleunigen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bereich des Wissensmanagements. Wie lässt sich das Wissen von ehemaligen Mitarbeitern in Führungspositionen, die in den Ruhestand gehen, dokumentieren und weiterhin nutzbar machen? Dahinter verbirgt sich u. a. der Gedanke, durch Aufbewahrung bzw. durch die Anwendung dieses Wissens ökonomische Vorteile im Wettbewerb zu erzielen. Das „perfekte Gedächtnis“ ist also auch eine ökonomische Wunschvorstellung.
Digitale Demenz
Bei meiner Recherche stieß ich auch auf eine wissenschaftliche Studie von der Columbia University in den USA, in der es darum geht, näher zu erforschen, wie das Internet und soziale Formen des Vergessens zusammenhängen. Die Studie von der Columbia University steht für die gegenteilige Tendenz zum perfekten Gedächtnisraum: Das Internet ist nicht nur ein konzentrierter Datenraum, in dem jegliche Datenspuren von Personen nachverfolgt werden können, sondern auch eine soziale Technologie, die das Vergessen kultiviert. Denn im Internet können auch Daten und Informationen abgelegt werden, die wir uns sonst vielleicht eher gemerkt hätten. Unsere Gedächtnisleistung lässt also in dem Moment nach, wo wir wissen, dass diese Daten und Informationen nicht gelöscht werden, sondern jederzeit woanders – etwa im Internet – abgerufen werden können. Dieser Befund wird auch von der empirischen Studie der Columbia University gestützt.
Vielleicht haben Sie ja in letzter Zeit von dem Buch „Digitale Demenz“ von dem Gehirnforscher Manfred Spitzer gehört, das im Jahre 2012 für viele hitzige Diskussionen in den Medien gesorgt hat. Die Beobachtung, dass wir digitale und soziale Technologien wie das Internet benutzen können, um das Vergessen zu kultivieren – wird von Spitzer als Grundgedanke in seinem Buch wieder aufgenommen und dabei stark zugespitzt. Spitzer leitet das Wort Demenz vom lateinischen de (herab) und mens (Geist) ab. Das Absterben von Nervenzellen – so Spitzer – ist hauptverantwortlich dafür, dass die Leistungsfähigkeit bei Demenz stetig abnimmt – insbesondere die Gedächtnisfähigkeit.
Dieses Abfallen der Gedächtnisfähigkeit bezieht Spitzer auch auf die digitale Kultur – vor allem auf das Internet. Wer das Internet dauerhaft und intensiv benutzt, läuft Gefahr, sich zunehmend weniger Dinge merken zu können, sich weniger zu konzentrieren und damit zu verdummen, so die Argumentation von Spitzer – grob vereinfacht und zusammengefasst.
Tatsächlich – so mein Gedanke am Schluss dieser Ausführungen – ist das Internet nicht mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar und so kann es auch – streng genommen – so etwas wie „Digitale Demenz“ gar nicht geben. Viel wichtiger ist es aber – in gesellschaftlicher Hinsicht – uns mehr mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir als Gesellschaft mit der Natur des Erinnerns und Vergessens zukünftig umgehen wollen. Dies vor allem auch im Verhältnis zu ökomomischen und technologischen Entwicklungen, denn gerade in diesen Bereichen können wir viel über den Zustand einer Gesellschaft im Umgang mit der Natur des Erinnerns und Vergessens ableiten.
Empfehlenswerte Blogs und Internetquellen zum Thema „Demenz, Vergessen und Gedächtnis“
Eine gute Einführung in das Gedächtnis und die verschiedenen Gedächtnisarten bietet das kompakte Video „Einführung Gedächtnis“ auf dem Internetportal „dasgehirn.info“ unter folgender Internetquelle: http://dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/einfuehrung-gedaechtnis/. Wer zusätzlich weitere Texte zu diesem Thema lesen möchte, findet ebenfalls auf diesem Portal einen sehr guten Grundlagenbeitrag zu den verschiedenen Formen des Gedächtnisses. Siehe dazu folgende Quelle: http://dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/formen-des-gedaechtnisses.
Grundsätzlich gibt es verschiedene Demenzformen, die sich gerade auch in der Eintrübung des Gedächtnisses voneinander unterscheiden. Auf der Internetseite des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden dazu unter dem Titel „Wegweiser Demenz“ weiterführende Informationen angeboten:
Wer sich dagegen für die Geschichte der Alzheimer-Krankheit interessiert, ist mit folgenden Quellen gut bedient:
- http://www.alzheimer-forschung.de/alzheimer-krankheit/faktenblatt_geschichte.htm
- http://www.welt.de/gesundheit/article112184064/Der-erste-Alzheimer-Fall-ist-endgueltig-geklaert.html
Zum Zusammenhang von digitalen Technologien und der Natur des Erinnerns und Vergessens siehe außerdem folgende Quellen:
- http://www.zeit.de/2011/15/%20Internet-Gedaechtnis
- http://www.sciencemag.org/content/333/6043/776.abstract
- http://www.youtube.com/watch?v=R8Fi1CBcJXU
- http://dasgehirn.info/aktuell/hirnforschung/der-sarrazin-kniff-mit-der-digitalen-demenz-4779
Quellenangaben zu den Fotos:
http://dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/gedaechtnisarten/image_mediathek_large
Foto: Shestakoff / Quelle: Fotolia.de
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.