1988 erschien das Buch “Störfall Alter. Für ein Recht auf Eigen-Sinn” von Christel Schachtner. Darin versucht Schachtner die Freiheiten des Alters jenseits der hochtechnisierten Leistungsgesellschaft näher zu erforschen. Diese Frage ist bis heute aktueller denn je: Was bedeutet Eigen-Sinn im Alter, wenn Leistung zum alles dominierenden Maßstab wird? Und was bedeutet dieser Eigen-Sinn speziell bei Menschen mit Demenz?
In dem Dokumentarfilm “Herbstgold – Wettlauf gegen die Zeit” von Sascha Westphal aus dem Jahr 2010 geht es um fünf Sportlerinnen und Sportler auf ihrem Weg zur WM. Dabei handelt es sich um ein ganz besonderes sportliches Ereignis, nämlich um die Seniorenweltmeisterschaften.
Gezeigt werden Menschen, die es noch einmal wissen wollen, etwa der 82-jährigen Hochspringer Jiri oder der 93-jährige 100-Meter-Läufer Herbert. Sie brauchen diese Anstrengungen, diesen täglich neu ausgetragenen Kampf gegen den eigenen Körper, der längst nicht mehr so will wie einst. Denn ohne das ständige Training und die Gedanken an die großen Wettkämpfe wäre da eine Leere, die durch nichts ausgefüllt werden kann.
So ähnlich wie diese körperlichen Höchstleistungen, die nicht mehr ganz ohne Störungen auskommen, stellt man sich auch die Leistungen von geistig hochaktiven Menschen im Alter vor. Etwa ein Bild wie das von Helmut Schmidt, der zu Lebzeiten noch mit weit über 80 Jahren als Vortragsredner und Buchautor geistig äußerst rege war, der aber bereits diverse Herz-OPs und Bypässe über sich ergehen lassen musste.
Störfall Alter oder vom Recht auf Eigen-Sinn
Die physischen und kognitiven Verausgabungen des Alters, ob als Hochspringer oder Vortragsredner, kratzen jedoch keineswegs am Status quo unserer hochtechnisierten Gesellschaft. Im Gegenteil: die Idealisierung von Leistung wird auch da noch hochgehalten, wo längst die Eigendynamik des Alters ihren Lauf genommen hat. Der passende Begriff dazu: “Ambivalenz”.
Das führt mich in der erneuten Lektüre des Buches “Störfall Alter: Für ein Recht auf Eigen-Sinn” von Christel Schachtner von 1988 auf die Frage, wie wohl heute der “Eigen-Sinn” im Alter im positiven Sinne ausgelegt werden kann, wenn man einmal die Leistungsideale unserer hochtechnisierten Gesellschaft näher unter die Lupe nimmt und sich dabei so wie Schachtner fragt, wo sich für den Menschen im Alter neue Perspektiven auftun, die so im engeren Funktionszusammenhang von moderner Erwerbsarbeit und sozialen Erwartungen eher nicht vorgesehen sind.
Das ist auch bei Menschen mit Demenz der Fall, wenn einzelne Verhaltensweisen gewisse Erwartungshaltungen und Konventionen sprengen, etwa plötzliches Schreien, welches unter professionell Pflegenden durchaus zur Irritation führen kann.
“Ambivalenz” ist in diesem Zusammenhang deshalb der passende Begriff, weil es im Alter immer zwei Seiten gibt, die gewissermaßen körperlich und geistig in einem Widerspruch zueinander stehen. Auf der einen Seite hätten wir jenen Menschen, der noch einmal körperliche und geistige Höchstleistungen im Alter vollzieht, der aber bereits einen Kampf gegen etwas führt, das sich immer weniger kontrollieren lässt.
Hier wird das Leistungsideal unserer Gesellschaft unter gewissen Anstrengungen mehr oder weniger kritiklos bejaht und fortgesetzt. Auf der anderen Seite kann es natürlich eine große Freude bereiten, beispielsweise mit 80 Jahren noch einmal einen Marathon zu laufen.
Damit ist jedoch noch keine besondere Aussage über den Eigen-Sinn des Alters getroffen. Schachtner fragt deshalb in ihrem Buch danach, wie Eigen-Sinn und individuelle Freiheiten im Alter aussehen können, wenn eigene Beschränkungen, körperliche Gebrechen und geistige Einschränkungen eben nicht als “defizitär” wahrgenommen, sondern ebenso als Chance begriffen werden.
Dementsprechend versucht sie in ihrem Buch auch den Begriff “Störfall” umzudeuten. “Die alten Menschen stören durch ihre Lebendigkeit”. Oder präziser formuliert: Die alten Menschen betrachten engere Funktionszusammenhänge aus einer alternativen, mehr ganzheitlichen Perspektive.
Ein gutes Beispiel dazu gibt es gleich zu Beginn des Buches. Schachtner erzählt von einem etwa 60jährigen Mann, der als Programmierer arbeitet. So erfuhr sie, dass dieser Mann seit 20 Jahren in einer Bank als Programmierer arbeitete, dass ihm diese Arbeit allerdings zunehmend belasten würde.
Bemerkenswerterweise führte er diese Belastung jedoch auf das einseitige Denken beim Programmieren zurück, “zu schaffen mache ihm auch das einseitige Denken beim Programmieren, diese Logik, die nur da sei, besser zu verwalten und zu kontrollieren. Jetzt, da er älter werde”, so der Mensch im Alter und nicht der Programmierer in ihm, “fange er in seiner Freizeit an, sich ganz anderen Dingen zuzuwenden. Er raddle und paddle tagelang und dabei denke er über alles nach. Er erschließe sich neue Welten, nehme anders und anderes wahr.” Eine ganzheitliche Perspektive außerhalb des engeren Funktionszusammenhangs tut sich allmählich auf.
“Rollende Gegenerfahrungen könnten Treibsand werden, der Unruhe hineinträgt in das Getriebe einer maschinenförmigen Ordnung, die den Menschen ein Leben lang ihre Logik aufherrscht und je nach Grad der Anpassung Lebenschancen vergibt. Es könnte auffällig werden, dass in dieser Ordnung nicht der ganze Mensch vorkommt, dass der One Best Way nicht hält, was er verspricht.” (Christel Schachtner)
Dieser Funktionszusammenhang hängt mit dem Erbe der Industrialisierungsepoche zusammen. “In der fabrikindustriellen Arbeit”, so Schachtner, “die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben den traditionellen Arbeitsformen zu behaupten begann, erfuhren ältere Arbeitnehmer den deutlichsten Statusverlust. Die Intensivierung des Arbeitstages, einhergehend mit dem Anspruch an gesteigerte Leistung, bewirkte innerbetrieblich Dequalifizierungen, wenn nicht die Entlassung älterer Arbeitskräfte.”
Heute erleben wir den Übergang zum digitalen Zeitalter und damit einhergehend eine janusköpfige Entwicklung. Wir dürfen vermuten, dass sich die kognitive Verdichtung und Beschleunigung von Arbeit noch weiter zuspitzen wird. Das wäre allerdings eine negative Auslegung dieser Entwicklung. Folglich wären der Geist und dessen Leistungsfähigkeit im 21. Jahrhundert das Gegenstück zum Körper in der fabrikindustriellen Arbeit, die sich in etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierte. Auf den körperlichen Ausschluss folgt im 21. Jahrhundert vor allem der kognitive. Auf der anderen Seite kann man diese Entwicklung auch wesentlich positiver auslegen.
Die Ergebnisse bisheriger Forschungen zu vorindustriellen Lebensformen deuten nämlich darauf hin, dass den Älteren früher länger dazu Gelegenheit gegeben wurde, sich den veränderten Fähigkeiten gemäß anzupassen. Der Übergang zum digitalen Zeitalter könnte vor diesem Hintergrund dementsprechend auch als Chance begriffen werden, den Eigen-Sinn des Alters entgegen übermäßiger Leistungsanforderungen im Übergang zum digitalen Zeitalter weniger als Angriff auf bestehende Ordnungen auszulegen.
Wenn die Ansprüche an die kognitive Arbeitskraft des Menschen immer größer werden, sollten wir folglich auch über ein anderes Modell von Arbeit diskutieren. Ich sehe Menschen in der Zukunft, die bereits mit 50 Jahren nicht mehr “kognitiv leistungsfähig” sind, im Sinne einer “nachindustriellen Periode auf Speed”, deren durchschnittliche Lebenserwartung aber 100 Jahre beträgt. In diesem Fall würde das Alter und das Recht auf Eigen-Sinn für alternative Lebensentwürfe stehen, die ein wichtiges gesellschaftliches Gegengewicht innerhalb dieser Entwicklung darstellen könnten.
Nach dieser Interpretation zufolge würden wir das Alter nicht nur wesentlich mehr als eine autonome Lebensphase begreifen, sondern überhaupt den Begriff des “Alters” und des “Alterns” auf eine andere Weise verstehen: nämlich als notwendigen Störfall zu solchen Entwicklungen in unserer hochtechnisierten Gesellschaft, die den Menschen immer weiter an seine kognitive Leistungsgrenze bringen und immer weniger Menschen dazu in die Lage versetzen, diesen Leistungsidealen über einen längeren Zeitraum gerecht zu werden. Demenz wäre dann die denkbar radikalste Antithese dazu.
Fazit
In unserer hochtechnisierten Gesellschaft von heute besteht die große Gefahr, dass wir immer früher an die Grenze unserer Leistungsfähigkeit geführt werden. Der Begriff des “Alters” relativiert sich damit gewissermaßen. Alter steht dann für die Störung einer zunehmend digitalisierten Betriebslogik, deren Fortführung nur noch unter dem Ausschluss von immer mehr Menschen aufrechterhalten werden kann. Arbeit wird zum Luxus.
Demenz wäre in diesem Zusammenhang auch als extreme Störung dieser Betriebslogik interpretierbar. Denn beinahe alle Leistungskriterien unserer hochtechnisierten Gesellschaft sind bei Demenz funktional außer Kraft gesetzt: Schnelle Auffassungsgabe, kognitiv hochverdichtete Arbeit, zunehmende Beschleunigung in beinahe allen Lebensbereichen und möglichst effizientes Selbstmanagement. Christel Schachtner deutet den Gegen-Entwurf zu dieser Entwicklung bereits 1988 in ihrem empfehlenswerten Buch “Störfall Alter. Für ein Recht auf Eigen-Sinn” an.
“Rollende Gegenerfahrungen könnten Treibsand werden, der Unruhe hineinträgt in das Getriebe einer maschinenförmigen Ordnung, die den Menschen ein Leben lang ihre Logik aufherrscht und je nach Grad der Anpassung Lebenschancen vergibt. Es könnte auffällig werden, dass in dieser Ordnung nicht der ganze Mensch vorkommt, dass der One Best Way nicht hält, was er verspricht.”
Das Buch “Störfall Alter. Für ein Recht auf Eigen-Sinn” von Christel Schachtner, erstmalig 1988 im S. Fischer Verlag erschienen, können Sie in verschiedenen Buchhandlungen bestellen. Hier eine Übersicht.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Austrianfilm / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.