Klassiker neu gelesen: Der Pflege eine Stimme geben

Die Pflege hat ein Kommunikationsproblem. Während der Pflegebedarf und der ökonomische Druck auf die Pflege steigt, wird das, was Pflegende für ihre Mitmenschen und die Gesellschaft leisten, vielfach nicht gehört, gesehen und wahrgenommen. Dies gilt speziell auch für die Pflege von Menschen mit Demenz, mit ihren ganz eigenen Herausforderungen. Wie können Pflegende dieses Problem durch gezielte Öffentlichkeits- und Medienarbeit lösen?

Die meisten Menschen, die professionell in der Pflege arbeiten, kennen das: Mitteilungen, welche erklären was Pflegende wirklich tun und warum Investitionen in die Pflege wichtig sind, gibt es selten. Stattdessen wird die Arbeit in der Pflege eher skandalisiert, etwa wenn in der Boulevardpresse mal wieder solche Meldungen wie “Akte Altenheim! Es wird immer schlimmer” die Runde machen.

Dabei wissen wir beispielsweise aus der empirischen Forschung, dass gerade in Deutschland die quantitativen Anforderungen in der professionellen Pflege überdurchschnittlich hoch sind: Dies bezieht sich insbesondere auf die Anforderungen in Alten- und Pflegeheimen. Diese quantitativen Anforderungen führen auf der anderen Seite wiederum zunehmend zu Burnout, steigenden Fehlzeiten und zu der vermehrten Absicht, das Berufsfeld zu verlassen. Hinzu kommen speziell in der Pflege von Menschen mit Demenz sogenannte “Herausfordernde Verhaltensweisen” wie unter anderem zielloses Umherwandern, Aggressivität oder auch Schreien und Rufen. Der Psychologe Hans-Wolfgang Hoefert spricht gar in diesem Zusammenhang von einem “anarchistischen Element”, welches mit üblichen Regeln und Routinen in der Pflege nicht vereinbar ist.

“In Institutionen sind viele Praktiken so zur Gewohnheit geworden, dass sie nicht mehr infrage gestellt werden. Weil die Leute so daran gewöhnt sind, verteidigen sie manchmal Konventionen, die ihnen nicht gerecht werden. Dies geschieht, wenn Pflegende meinen, sie müssten den Arzt mit Titel und Nachnamen ansprechen (…), andererseits aber der Meinung sind, der Vorname allein sei für Pflegende ausreichend.” Buresh und Gordon

Außerdem wird nur eine kleiner Teil in der Versorgung von Menschen, die aufgrund von chronischen Krankheiten über einen längeren Zeitraum auf fremde Hilfe angewiesen sind, durch Mediziner abgedeckt. Der Großteil dieser Art von Versorgung wird tatsächlich neben Angehörigen von professionell Pflegenden übernommen. Dennoch bleiben die meisten Pflegepersonen hierzulande eher stumm, wenn es um die Bewusstmachung der eigenen Arbeit in der Öffentlichkeit geht, was gerade für Außenstehende nicht selten höchst seltsam erscheint. “Pflege, da geht es doch vor allem um Ausscheidungen, Spritzen, Verbände, Blutdruck und Essen reichen”, so häufig immer noch das öffentliche Bild.

In ihrem praktischen Handlungsleitfaden “Der Pflege eine Stimme geben. Was Pflegende wie öffentlich kommunizieren müssen” gehen die beiden US-amerikanischen Journalistinnen Bernice Buresh und Suzanne Gordon der Frage nach, warum Pflege häufig eher stumm bleibt, wenn es um die eigene Wahrnehmung in der Öffentlichkeit geht. Das Buch erschien erstmals im Jahr 2000 in der englischen Originalfassung, wurde dann aber 2006 in der deutschsprachigen Ausgabe von Angelika Zegelin herausgegeben und auf die hiesigen Verhältnisse bezogen. Das Buch hat auch nach 16 Jahren nichts an Bedeutung verloren.

Lesen Sie weiter, um zu erfahren, warum Pflege von Menschen mit Demenz auch hierzulande ein Kommunikationsproblem hat, und wie sich dieses Problem durch gezielte Öffentlichkeits- und Medienarbeit lösen lässt.

Warum Pflege ein Kommunikationsproblem hat

Es gibt verschiedene Gründe, warum die Pflege in der Öffentlichkeit häufig stumm bleibt. Dabei sind gerade auch in der Pflege von Menschen mit Demenz viele Anwendungsmöglichkeiten denkbar, was die Öffentlichkeitsarbeit anbelangt. Ein Beispiel wäre “Die schleichende Krise”, so auch eines der Fallbeispiele in dem Buch von Buresh und Gordon. So kann eine Kampagne sehr hilfreich sein, auf bestimmte Probleme in der Öffentlichkeit aufmerksam zu machen.

Analog zu dem Fallbeispiel von Buresh und Gordon fällt mir dazu auf hiesige Verhältnisse angewandt sofort auf, dass es auch hier an vielen Stellen an Pflegepersonal mangelt. Und selbstverständlich könnte man an dieser Stelle innerhalb einer Kampagne einmal darauf aufmerksam machen, was Pflegende in der Versorgung von Menschen mit Demenz im Alltag so alles leisten und was es an spezifischen Problemen zu meistern gibt.

Dabei fängt eine solche Kampagne häufig mit einem Kurzbericht in der Presse an, gefolgt von weiteren Berichten und Leserbriefen. Auch nicht professionelle Kommunikationsarbeiter können mit der Hilfe von anderen Personen mit genügend Vorbereitungszeit eine Kampagne stemmen. In dem Buch “Der Pflege eine Stimme geben” wird eindrücklich beschrieben, wie sich das praktisch umsetzen lässt: von den ersten Ideen bis zur Realisation.

Die Gründe dafür, warum gerade in der professionellen Pflege ein Kommunikationsproblem besteht, sind dabei allerdings woanders zu entdecken, als man vielleicht auf dem ersten Blick vermuten würde. Es geht beispielsweise nicht wirklich um Zeitnot. Um was geht es dann?

Buresh und Gordon nennen vor allem folgende Gründe:

  • Pflege wird nach wie vor mehr von Frauen betrieben. Während sich Männer tendenziös meistens lieber “öffentlich äußern”, bevorzugen Männer – so einzelne Forschungsergebnisse – eher einen Stil, der für “private” Gespräche typisch ist.
  • Frauen setzen die Sprache meistens für Zwecke ein, die ihnen persönlich wichtig sind, etwa um Kontakte oder Beziehungen aufzubauen und um Beziehungen auszuloten.
  • Zudem wurde die Pflege nicht nur von Frauen gegründet, sondern sie hat auch ihre Herkunft in der häuslichen Pflege.
  • Hinzu kommt die Verknüpfung von Betreuungsarbeit und Selbstaufopferung, die in der Pflege eine lange Tradition besitzt. So etwa auch die Feststellung, Betreuungsarbeit liege “in der Natur der Frauen”, sei gar “gottgewollt”, womit die Komplexität dieser Arbeit einfach unterschlagen wird, speziell auch in der Pflege von Menschen mit Demenz, und die Autorität der Betreuenden.

Ein erster Vorschlag von Buresh und Gordon zum “Ende des Schweigens” lautet dann auch wie folgt: Man solle versuchen eine Situation aus der Praxis anschaulich zu beschreiben, damit der Gesprächspartner sich ein Bild von der Tätigkeit der Pflegenden und ihren Überlegungen machen kann. Und dabei stellt sich vor allem die Frage, wie Sie über die Dinge sprechen, die Sie in der Praxis unternehmen, gerade auch gegenüber anderen professionellen Helfern.

Das Video im oberen Teil dieses Abschnitts veranschaulicht diese Situation auf sehr pointierte Weise: Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie würden sich in einem Fahrstuhl mit einem Mediziner befinden, der Sie danach fragt, was Sie so im Krankenhaus machen bzw. wie Ihre Arbeit aussieht? Wie würden Sie sich vor diesem Hintergrund vorstellen? Im oben angeführten Video gibt es dazu zwei Varianten, welche die Extreme ausloten.

Was gezielte Öffentlichkeitsarbeit bewirken kann

In dem Buch von Buresh und Gordon werden so ziemlich alle Arten der klassischen Öffentlichkeitsarbeit auf systematische Weise näher beleuchtet, die sich auch gut von Nicht-Profis anwenden lassen. Dabei wird auch an zahlreichen Beispielen dargelegt, was gute Öffentlichkeitsarbeit alles bewirken kann. Kampagnen zum “Notstand in der Pflege von Menschen mit Demenz” können beispielsweise bewirken, dass einige Aktivitäten entfaltet und mehr Geld bereitgestellt wird, damit einzelne Pflegeinstitutionen mehr Pflegepersonal einstellen können.

In manchen Fällen werden sogar Gesetze geändert oder einzelne Medikamente verboten. Dabei weisen die beiden Autorinnen aber ebenso überzeugend nach, dass jede gekonnte Öffentlichkeitsarbeit im Kleinen beginnt. Denn auch schon in einzelnen Gesprächen kann es darauf ankommen, wie Sie Ihre eigene Arbeit präsentieren. Die Kampagne wäre dabei eher das Ende dieser Kette.

Neben dem Beschreiben der eigenen Arbeit, der adäquaten Sprache und der Zusammenarbeit mit anderen professionellen Helfern und Personen, die Sie in der Öffentlichkeitsarbeit unterstützen können, wie etwa externe PR-Experten und Kommunikationsagenturen, werden auch verschiedene Instrumente mit zahlreichen Beispielen praktisch dargelegt, die Sie in Ihrer eigenen PR-Arbeit nutzen können.

Zu den PR-Instrumenten gehören unter anderem:

  • die Pressemitteilung
  • der Leserbrief
  • das Interview
  • das Publikmachen von Pflegeforschung
  • und die eigene Kampagne

Fazit

Ein mutmachendes Buch, das Pflichtlektüre für jeden im Pflegebereich Tätigen sein sollte. Ein umfassendes Informationswerk, das Pflegenden vermittelt, wie sie ihre Geschichten, Erkenntnisse und ihr Fachurteil in die Öffentlichkeit bringen können. Und ebenso ein Werk, das gerade auch für professionell Pflegende in der Versorgung von Menschen mit Demenz bestens dazu geeignet ist, mehr Bewusstsein in der Öffentlichkeit dafür zu schaffen, wie anspruchsvoll dieser Beruf häufig sein kann und welche Herausforderungen zu meistern sind.

Dabei hat dieses Buch seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 2000 kaum an Bedeutung verloren. Lediglich die sozialen Medien spielten damals noch keine größere Rolle für die eigene Öffentlichkeitsarbeit, was auch in der deutschen Ausgabe und den späteren Auflagen ausgelassen wurde. An dieser Stelle würde ich mir ein ergänzendes Werk wünschen, das eher der Frage nachgeht, was es bedeutet, soziale Medien wie unter anderem YouTube, Facebook, Twitter und Pinterest dazu zu nutzen, der Pflege eine Stimme zu geben. Ansonsten kann ich Ihnen dieses Werk aber definitiv empfehlen!

Das Buch “Der Pflege eine Stimme geben. Was Pflegende wie öffentlich kommunizieren müssen” von Bernice Buresh und Suzanne Gordon wurde erstmalig im Jahr 2000 auf Englisch veröffentlicht und zuletzt auf Deutsch 2006 im Huber Verlag publiziert. Hier der Link zum Buch.

Quellenangabe zum Titelfoto:

Foto: Amy Messere / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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