Nichts als die Wahrheit: Gewalt in der Pflege von Menschen mit Demenz

Extreme physische Gewalt ist in der Pflege selten, auch wenn die Massenmedien uns häufig etwas anderes suggerieren. Aber wie sieht es mit anderen Formen von Gewalt aus? Etwa psychische und strukturelle Gewalt in der Pflege von Menschen mit Demenz? Marcus Klug hat verschiedene Gewaltformen näher beleuchtet.

Sie kennen das: Berichte aus den Zeitungen oder Beiträge im Fernsehen, in denen über extreme Formen von Gewalt in der Pflege berichtet wird. Der spektakulärste deutsche Fall von Patiententötungen aus den letzten Jahren ist Ihnen vielleicht noch vertraut. Im September 2014 wird in einem Klinikum in Delemenhorst der 38-jährige Krankenpfleger Niels H. verhaftet.

Die Anklage lautet auf Mord an Patienten in drei Fällen und Mordversuch in zwei Fällen.

Virtuelle Gewalt

In den Massenmedien können wir recht schnell den Eindruck gewinnen, dass solche furchtbaren Gewalttaten wie die von Niels H. in der Pflege häufiger vorkommen.

Dies ist aber nicht der Fall. Extreme Formen von physischer Gewalt ereignen sich nur relativ selten. Statistisch betrachtet verhält sich mit diesen Fällen so ähnlich wie mit Flugzeugabstürzen. Auch wenn in den Medien häufiger über Flugzeugabstürze berichtet wird, so ereignen sich Flugzeugabstürze in der Realität nur äußerst selten. Unsere Wahrnehmung könnte also durch diese Berichte verzerrt werden.

Extreme Formen von physischer Gewalt in der Pflege und speziell in der Pflege von Menschen mit Demenz haben aber auch noch einen anderen Effekt. Sie lenken uns von anderen Formen von Gewalt ab, die in der professionellen Pflege viel häufiger anzutreffen sind.

Wir waschen uns in Unschuld

Wir waschen uns in Unschuld. “Sag mal Petra, hast du gestern diesen Fall von Patiententötungen in einem Klinikum in Delmenhorst mitbekommen?” Petra: “Na klar, ich war total schockiert, was für ein extremer Fall.”

Diese Form von Gewalt besitzt eine gewisse virtuelle Note. Sie ist eigentlich so weit von uns entfernt, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass so etwas auch in unserer unmittelbaren Umgebung geschehen könnte.

Aber wie verhält sich eigentlich mit anderen Formen von Gewalt in der Pflege von Menschen mit Demenz, etwa psychische und strukturelle Gewalt?

Verschiedene Formen von Gewalt

In der Zeitschrift “pflegerebell” habe ich in der Ausgabe 01.2016 zum Schwerpunkt “Gewalt in der Pflege” eine Liste mit möglichen Formen von Gewalt in der Pflege entdeckt, die sich sicherlich noch weiter ergänzen lässt.

Vielleicht fallen Ihnen ja auch noch andere Formen von Gewalt ein?

Verschiedene Formen von Gewalt – bezogen auf die Pflege von Menschen mit Demenz.

Physische Gewalt

Menschen mit Demenz werden fixiert oder geschlagen.

Psychische, emotionale Gewalt

Menschen mit Demenz werden verhätschelt, beleidigt oder ständig wie unmündige Kinder behandelt.

Finanzielle Gewalt

Menschen mit Demenz haben keine Einfluss mehr auf ihre persönlichen Finanzen.

Passive und aktive Vernachlässigung

Menschen mit Demenz werden bei Routinetätigkeiten wie der Morgenpflege nicht mehr persönlich angesprochen.

Strukturelle Gewalt

Menschen mit Demenz müssen immer zu selben Zeit frühstücken, obwohl das überhaupt nicht ihren individuellen Rhythmus entspricht.

Kulturelle Gewalt

Menschen mit Demenz werden aufgrund ihrer Religion oder Sprache benachteiligt.

Freiheitsbeschränkungen

Menschen mit Demenz werden eingesperrt.

Fazit

Obwohl extreme Formen von Gewalt in der Pflege von Menschen mit Demenz nur relativ selten anzutreffen sind, existieren andere Formen von Gewalt, mit denen wir uns intensiver beschäftigen sollten. Passive und aktive Vernächlässigung ist zum Beispiel recht häufig anzutreffen, insbesondere wenn nur wenig Zeit für Personen mit Demenz zur Verfügung steht.

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.d

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