Selbstreflexion wird in der Pflege häufiger als Luxus bezeichnet. Dabei gibt es an sich viel zu reflektieren: Wie sieht es mit der Erfüllung von Bedürfnissen, Erwartungen und Notwendigkeiten aus, wenn wir die Gedanken und Wünsche von Pflegenden nicht einfach außen vor lassen? Marcus Klug unternimmt in diesem Beitrag einen kleinen Ausflug in die Philosophie der Lebenskunst.
In der Antike wurde der Lebenskunst ein großer Stellenwert eingeräumt. Damals wäre noch kein Mensch auf die absurde Idee gekommen, dass die Lebenskunst etwas für Weicheier sei, oder in einer anderen modernen Variante, dass in der Praxis eben keine Zeit für derartige Dinge wäre. Zugegeben, die meisten Personen, die sich in der Antike mit der Frage beschäftigten, wie ein gutes Leben gelingen könne, gehörten nicht gerade zur breiteren Masse der Gesellschaft. Es waren solche privilegierten Geister wie unter anderem der griechische Philosoph Epikur.
Diese Philosophen haben sich aber eben auch mit ganz praktischen Fragen des Lebens beschäftigt. Im Mittelpunkt der Lebensphilosophie steht daher auch die Frage nach der eigenen Balance: Lerne die Balance zu halten zwischen den Bedürfnissen der anderen und deinen eigenen. Das ist ebenso eine ganz zentrale Fragestellung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Selbstpflege. Das Spektrum an Vorstellungen zur Lebenskunst reicht von unbeschwertem Lebensgenuss, dem französischen Savoir-vivre, über den gelassenen Umgang mit allen Anforderungen und Verwicklungen, die das Leben mit sich bringt, bis hin zu dem Extrem, nicht von der Lebenskunst, sondern eher von der Überlebenskunst zu sprechen.
Reflexion ist kein Luxus
Wer Menschen professionell bis ans Lebensende begleitet, berührt mit seiner Arbeit viele existenzielle Grundfragen des Lebens: Wie gehen wir mit extremeren Ängsten und Sorgen von anderen Menschen um, wie reagieren wir auf Gewalt und Aggressionen, wie gehen wir mit einzelnen Missständen und Situationen von Hilflosigkeit und Abhängigkeit um?
“Sieh, das ist Lebenskunst: Vom schweren Wahn des Lebens sich befrein, fein hinzulächeln übers große Muß.” Christian Morgenstern
Reflexion schafft Abstand. Die regelmäßige und planvolle Reflexion von beruflichen Alltagssituationen ist kein Luxus. Sie ist heute längst keine Frage mehr “von einzelnen privilegierten Menschen, die es sich leisten können”, die Zeit dafür aufzubringen, mehr über das eigene Leben nachzudenken. Im Gegenteil: Sie stellt eine echte Notwendigkeit dar!
- Lerne die Balance zu halten zwischen den Bedürfnissen der anderen und deinen eigenen.
- Lerne deinen Arbeitsalltag kritisch zu betrachten und zu reflektieren. Was ist zufriedenstellend? Was fördert Wohlbefinden? Wo zeigt sich entwürdigende Überforderung bei dir und anderen? Was bietet sich als Alternative an?
In dem Buch “Lebenkunst. Utopien nach der Krise” (2011) heißt es: “Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten Lebens auf Erden.” Das ist der ökologische Imperativ, den der Philosoph Hans Jonas geprägt hat (siehe dazu auch das beigefügte Video).
Wir sollen so handeln, dass wir mit unserem sozialen Umfeld und der Umwelt, in der wir leben, mehr in Einklang stehen. Aber dafür brauchen wir auch Abstand, da wir andernfalls in diesem Umfeld nicht bestehen können. Und diese Kunst ist heute im Alltag eingebettet. Wir setzen am Individuum an, am Drama des Alltäglichen, an Entscheidungen, die wir Tag für Tag in der Pflege treffen, wenn wir kommunizieren, dokumentieren, beim Essen und Trinken helfen oder auch zuweilen mit dementen Menschen musizieren.
Das Bild einer turbulenteren Seefahrt vor Augen. Wenn wir ständig allzu wagemutig beim Segelsetzen herumturnen und dabei nicht angemessen die Sicherung beachten, können wir schnell von einer Bö von Bord geweht werden. Das passiert schneller als wir denken, wenn wir uns selber immer so vergessen.
Kleine Reflexionsübungen für den Alltag
Es gibt einige schöne Reflexionsübungen aus der antiken Lebenskunst, die auch heute noch von Bestand sind, etwa die Vogelschau. Jede Woche nehmen Sie sich etwas Zeit dafür, die eigene Woche noch einmal quasi wie ein Vogel in der Rückschau zu überfliegen. Was war zufriedenstellend? Was förderte das Wohbefinden? Wo zeigte sich Ohnmacht und Überforderung?
Leo Babauta ‒ Journalist und Blogger ‒, der selber eine flexibel anwendbare Selbstmanagement-Strategie entwickelt hat ‒ “Zen to Done” (ZTD) ‒ hat aus dem Vogelflug als Reflexionsübung eine wichtige Organisationsgewohnheit abgeleitet. Auch er empfiehlt, in regelmäßigen Abständen die eigene Praxis zu reflektieren, und zwar in der Form der Rückschau. Am besten, so Babauta, solle man sich dazu einen festen Zeitpunkt setzen.
Ich mache das einmal pro Woche. Immer am Sonntag für eine halbe Stunde. Um diese Gewohnheit fest in den Alltag zu integrieren, benötigen Sie in etwa vier bis sechs Wochen Zeit, so Babauta. Ich kann das aus meiner eigenen Erfahrung nur bestätigen! Und erzählen Sie bitte später nicht, Sie hätten keine Zeit dafür, weil Selbstreflexion ein Luxus wäre. Denn das halte ich für eine Gerücht!
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: Juan M. S. / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.