Facebook für Demenzkranke: Interview mit Felix Feierabend

Die beiden Designer Felix Feierabend und Manutchehr Ghassemlou von der Agentur Dreimorgen in Frankfurt haben zusammen mit den Bewohnern einer Senioreneinrichtung ein soziales Netzwerk entwickelt. Wir wollten wissen: Sieht man das Internet nach einem solchen Projekt mit anderen Augen? Und wie könnte ein soziales Netzwerk für Menschen mit Demenz aussehen?

“Was um Himmels Willen ist eigentlich das Internet?”. Für Senioren und ältere Menschen mit Demenz ist das Internet häufig alles andere als selbsterklärend. Wenn beispielsweise eine Maus nach oben bewegt werden soll, kann es auch schon einmal vorkommen, dass Senioren plötzlich damit beginnen, Computermäuse vom Tisch hochzuheben.

Diese Erfahrung machten jedenfalls die beiden Designer Felix Feierabend und Manutchehr Ghassemlou von der Agentur Dreimorgen in Frankfurt, als sie konkret damit anfingen, ein soziales Netzwerk für Senioren im Rahmen des Projekts “Pleno” zu entwickeln. “Vieles”, so sagt Feierabend im Interview, “was für mich selbstverständlich war, wurde so noch einmal in neuem Licht sichtbar. Wenn ich jetzt im Internet unterwegs bin, denke ich öfters darüber nach, wie es wäre, wenn ich gar nichts über dieses Medium wüsste”.

Der Auftrag: Seit 2005 betreut Dreimorgen die Cronstetten Stiftung in Frankfurt in allen Belangen der Kommunikation. Als im Jahre 2007 das Cronstetten Haus am Mainufer im neuen Wohnquartier Westhafen aufmachte, das speziell auf die Bedürfnisse von älteren Menschen zugeschnitten ist, entstand daraufhin die gemeinsame Idee, ein soziales Netzwerk in diese Wohnanlage zu integrieren. Das Besondere daran: Bei der Umsetzung waren die Senioren zugleich auch an der Entwicklung mit beteiligt.

Im Interview mit Felix Feierabend wollte ich genauer wissen, wie wir uns ein solches soziales Netzwerk wie Pleno vorstellen können, wie Senioren zu Entwicklern werden, und inwieweit sich einzelne Erfahrungen aus einem solchen Projekt auf die Entwicklung von sozialen Netzwerken für Menschen mit Demenz beziehen lassen.

Das Cronstetten Haus in Frankfurt. Ausgangspunkt für das Projekt “Pleno” …

Herr Feierabend, was haben Sie als webaffiner Designkopf über das Internet erfahren, als sie mit Ihrem Kollegen Manutchehr Ghassemlou zusammen mit Senioren ein soziales Netzwerk entwickelten? Wie ändert sich der eigene Blick auf das Internet durch eine solche Erfahrung?

Das Internet besteht aus einer Vielzahl abstrakter Konzepte. Obwohl Dreimorgen eine Agentur für Web- und Grafikdesign ist, waren wir uns dessen nicht in vollem Umfang bewusst. Im Rahmen des Projekts haben wir sozusagen die Entwicklung dieses Mediums noch einmal nachvollzogen und begriffen, was es bedeutet, wenn man die letzten zehn Jahre “verpasst” hat. Es ist nicht immer leicht zu erfassen, welche Möglichkeiten das Internet bietet. Für manche der Senioren war es eine große Herausforderung zu verstehen, was eine Webseite ist und was diese für Funktionen abbilden kann. Wenn ich jetzt im Internet unterwegs bin, denke ich öfters darüber nach, wie es wäre, wenn ich gar nichts über dieses Medium wüsste. Da wird einem schon klar, wieso einige Senioren beispielsweise so große Probleme mit der Bedeutung ihres Browsers haben, also mit speziellen Computerprogrammen zur Darstellung von Webseiten im World Wide Web.

In dem Magazin Page, welches sich insbesondere an Mediengestalter richtet, habe ich gelesen, dass es zunächst darum ging, den Senioren grundsätzliche Dinge über das Internet zu vermitteln, bevor es an die Entwicklung eines sozialen Netzwerks ging. War Ihnen das von Anfang klar?

Wir wussten zu Projektbeginn nicht wirklich, was uns konkret erwartet. Wir hatten im Voraus auch nicht geplant, das Projekt zu einem Lernkurs “Computer & Internet” zu machen. Auf der anderen Seite war es allerdings auch keine Überraschung, dass an vielen Stellen grundlegendes Wissen gefehlt hat. Wir sind das Projekt sehr offen und ohne strikten Projektstrukturplan angegangen. Das war ein echter Luxus, aber auch eine Herausforderung – quasi ein weißes Blatt Papier. Überraschend war für uns eher, wie viele Einzelschritte wir letztendlich durchlaufen mussten, um eine solche Funktionalität wie etwa “Eine Opernkarte über das digitale schwarze Brett tauschen” verständlich zu machen. Hier war viel Vorarbeit zu grundlegenden digitalen Konzepten notwendig. Dabei sollte man verstehen, dass im Agenturalltag die meisten Projekte zumeist wesentlich strikter strukturiert sind.

Wir wissen beispielweise in den meisten Fällen recht genau, wann ein bestimmtes Projekt beginnt, und können spätestens nach der Analysephase und Konzeption sehr klar absehen, wie ein Projekt verläuft, ob es es etwa Probleme gibt und derartige Dinge. Bei Pleno lief dieser Prozess dagegen ein wenig anders ab; es existierten zwar so wie auch bei anderen Projekten die aufeinander folgenden Phasen Analyse → Konzeption → Umsetzung → Evaluation, jedoch war der zugrundeliegende Prozess bei diesem Projekt offener: Es gab zunächst den Wunsch zur Auseinandersetzung mit einem Thema und so entstanden nach jeder Etappe neue Herausforderungen (eine derartige Vorgehensweise wird  im Fachjargon als agiles Projektmanagement bezeichnet; Anm. der Redaktion).

Wie können wir uns die Vermittlung von grundsätzlichen Dingen zum Internet für Senioren vorstellen? Gab es beispielsweise Workshops?

Fester Bestandteil des Konzeptes war es, die Bewohner des Hauses in regelmäßigen Abständen zusammenzubringen. Diese Workshops laufen seit vier Jahren, alle zwei Wochen. Wir sitzen in einem großen Tischkreis mit circa 15 Teilnehmern zusammen und meist besteht eine recht große Ungleichheit bezüglich des Wissensstandes. Grundsätzlich ist die Unterrichtsführung sehr frei. In diesem Rahmen erarbeiten wir mit den Teilnehmern gemeinsame Themen. Es gibt Raum für spontane Diskussionen. Und manchmal wird der Unterricht auch frontal abgehalten, je nachdem, wie es passt. Dabei ist die Kerngruppe des Workshops mittlerweile soweit, neuen Bewohnern eine unabhängige Einführung und Hilfe zu geben. Sie werden damit quasi zu Botschaftern und Experten. Zusätzlich zu den allgemeinen Kursen bieten wir jetzt auch immer häufiger kurze iPad-Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene an, welche sehr gut angenommen werden. Wenn ein Bewohner noch keinen eigenen Computer hat, rate ich in den meisten Fällen zu einem Tablet, da die zu lernenden Konzepte weitaus einfacher und schneller zu verstehen sind.

Eine Besonderheit des Projekts hat uns bei der Vermittlung von Inhalten natürlich sehr geholfen: Die Senioren waren nicht nur “User”, sondern ebenso dazu aufgefordert, wie Entwickler zu denken. Der Unterricht bestand ja schwerpunktmäßig aus der Entwicklung des Netzwerks selbst. Dieser Blick hinter die Kulissen war zwar für viele sehr fordernd, aber auch ermutigend, weil sie etwas Neues schaffen konnten.

Wie können sich professionelle Pflegekräfte und Entscheider aus der Gesundheitsbranche die Arbeit eines Kommunikationsdesigners in der Entwicklung eines solchen Projekts vorstellen?

Prinzipiell ist das Projekt “Pleno”, was die Projektphasen betrifft, strukturell wie viele Designprojekte aufgebaut: Es begann mit einer Analysephase. Hier war es ein besonderer Umstand, dass wir direkt mit den Kunden unserer Kunden (den Bewohnern) zusammenarbeiten konnten, um das gemeinsame Ziel zu benennen. Darauf folgte die Konzeption – was soll mit welchem Mittel umgesetzt werden, um das Ziel zu erreichen und letztlich die Umsetzung – in diesem speziellen Fall entwickelten wir diverse funktionale Prototypen, um diese immer wieder mit den Senioren zu testen, bevor wir sie in das System integrierten.

In diesem Prozess hatten wir sehr wertvollen Input bezüglich der Ergonomie (Anpassung eines Systems an die Bedürfnisse des Nutzers; Anm. der Redaktion) und Interface (der Begriff Interface verweist auf jene Schnittstelle eines Computersystems, welche der Kommunikation dient, beim Computer etwa auf die Monitoroberfläche, mit der Nutzer über eine Maus und/oder über ein Touchfeld interagieren; Anm. der Redaktion). Dieser Rhythmus: Analyse → Konzeption → Umsetzung → Evaluation wird seit Projektbeginn immer wieder durchlaufen.

… Designer von der Agentur Dreimorgen entwickelten zusammen in Workshops ein soziales Netzwerk …

Aus der Retrospektive: Wo sehen Sie wesentliche Barrieren im Umgang mit sozialen Netzwerken, was die Generation 65+ anbelangt? Wie unterscheiden sich die Kriterien für Senioren von solchen Netzwerken, die eher auf digitale Eingeborene zugeschnitten sind?

Sobald die Senioren den Umgang gelernt und die Problematiken beiseite geräumt haben, sind Sie auf das Gleiche aus wie die “Digital Natives”, also jene Personen, die nach 1980 geboren sind und für die zumeist der Umgang mit digitalen Medien eine Selbstverständlichkeit darstellt. Auch die Senioren wollen spielen, entdecken, sich vernetzen und Neues lernen. Es gibt zwar physische Einschränkungen, welche in der Gestaltung zu bedenken sind, aber ansonsten sind keine großen Unterschiede in der Nutzung festzustellen. Die wahrscheinlich größte Barriere ist die Angst davor, etwas kaputtzumachen. Mit Pleno haben wir ein Werkzeug bzw. einen sicheren Spielplatz entwickelt, von welchem aus die Erfahrungen gemacht werden können, ohne Angst davor zu haben, etwas kaputtzumachen. Diese Erfahrungen sorgen dann schließlich auch dafür, dass man sich im “echten” Internet besser zurechtfindet.

Inwieweit profitieren Senioren von einem sozialen Netzwerk in puncto sozialer Austausch, Kommunikation und Spielimpuls? Was sind Ihre spontanen Assoziationen zu diesen Aspekten?

Sehr! Die Anlaufzeit war zwar recht langwierig, aber mittlerweile wird Pleno stark zur Eigenorganisation und Informationsverteilung im Haus genutzt. Es haben sich eigene Interessensgruppen gebildet. So existieren beispielsweise einzelne Personen innerhalb dieses Netzwerks, die sich ohne dieses nicht unbedingt kennengelernt hätten. Dabei findet die Interaktion, und das ist für uns besonders schön, einerseits online über Pleno, aber auch konkret und real statt. Die Bewohner haben eine große Motivation Informationen zusammenzutragen, um ihren Mitbewohnern eine Freude zu machen und tatsächlich zu helfen. Die regelmäßigen Workshops tragen auch sehr stark dazu bei. Hier hat sich ein Raum gebildet, in welchem die sozialen und emotionalen Aspekte zum Vorschein kommen. Es wird kommuniziert, gelacht und gespielt – manches Mal muss der Lehrer sogar einschreiten, damit der Unterricht nicht zu stark gestört wird.

Gibt es tatsächlich unterschiedliche Funktionen für soziale Netzwerke, die für Senioren, nach den Erfahrungen mit Ihrem Projekt, von Bedeutung sind?

Die Funktionen selbst sind oftmals die gleichen – die Unterschiede sind die des Zugangs und der Prozesse – also das, was der User tun muss, um sein Ziel zu erreichen. Unsere Erfahrung ist, dass Arbeitsabläufe, die mit einem solchen Netzwerk zusammenhängen, in eher kleinen Schritten unterteilt werden sollten, damit diese nachvollziehbar bleiben und Orientierung gewähleistet werden kann. Eindeutigkeit und Kontext sind sehr wichtig. Als Analogie: Lieber mehrere Werkzeuge einsetzen (“single purpose tool”), die ihren Zweck erfüllen, als ein Schweizer Taschenmesser verwenden.

… Dabei zeigte sich, dass Senioren besonders gerne Tablet-Computer für soziale Interaktionen nutzen, weil diese einfach intuitiver funktionieren …

Nun noch ein kleines Gedankenexperiment für Sie: Angenommen das soziale Netzwerk für Senioren, was Sie entwickelt haben, wäre noch spezieller auf die Bedürfnisse von älteren Menschen mit Demenz zugeschnitten. Wie stellen Sie sich aus der Perspektive eines Designers ein solches Netzwerk vor?

In einem solchen Projekt wäre es wichtig, mit Usern (ältere Menschen mit Demenz) und Experten aus dem Bereich eng zusammenzuarbeiten. Ideal wäre es, gemeinsam in Workshops und im spielerischen Umgang Erfordernisse, Bedürfnisse und Notwendigkeiten herauszuarbeiten, um diese dann wieder in Interface, Eingabemethode und Funktion zu übersetzen. Wir haben durch das Projekt “Pleno” gelernt, dass unsere Vorstellungen von Bedürfnissen und Erfordernissen oftmals nichts mit der Realität und den wirklichen Wünschen und Notwendigkeiten der Endnutzer zu tun haben. Durch den gemeinsamen konkreten Prozess zeigen sich oftmals überraschende Dinge, die durch direkte Beobachtung sichbar werden.

Wir vermuten, dass ein solches Netzwerk wahrscheinlich nicht nur die oberflächlichen Funktionalitäten von bereits bestehenden Netzwerken abbilden sollte, sondern gleichfalls auch mit eigenen Werkzeugen bestückt werden sollte, welche konkret auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zugeschnitten sind.

Interessant wäre aus unserer Sicht außerdem, die Onlinesysteme stärker in die reale Hausstruktur zu integrieren, also hauseigene Funktionen zur Information, Orientierung, Kommunikation oder Freizeitangebot mit einem sozialen Netzwerk für Menschen mit Demenz zu verbinden.

Was bedeutet es für Sie, Onlinesysteme stärker in die reale Hausstruktur zu integrieren, was Information, Orientierung, Kommunikation oder Freizeitangebot anbelangt? Können Sie das einmal plastisch an einem Beispiel verdeutlichen?

Die Frage lautet in diesem Zusammenhang für uns, auf welche Strategien wir setzen können, um ein solches Netzwerk stärker von den klassischen Ausgabemedien wie beispielsweise dem Computermonitor zu entkoppeln und es mehr an Umgebung und Lebensräume der User anzupassen: in diesem Fall also stärker an die Wohnumgebung von Menschen mit Demenz. Derartige Ansätze existieren bereits in sogenannten “Ambient Assisted Living”-Systemlösungen. Derartige technische Unsterstützungssysteme dienen dazu, das alltägliche Leben und die damit verbundenen Anforderungen zu vereinfachen, insbesondere wenn Menschen bestimmte alltägliche Aufgaben nicht mehr so ohne Weiteres in ihrer Umgebung ausführen können.

In diesem Beispiel würden die bis dato beschriebenen Funktionen eines sozialen Systems zudem durch einen zusätzlichen Aspekt erweitert werden: Auf der einen Seite dient ein soziales Netzwerk dazu, die eigene Freizeit zu gestalten, Kommunikation zu betreiben oder spielerische Impulse zu wecken, auf der anderen Seite ist auch denkbar, dass ein solches Netzwerk dazu dienen könnte, den Alltag zu vereinfachen, indem es noch stärker mit anderen Technologien und der eigenen Wohumgebung vernetzt wird (im Sinne von “Ambient Assisted Living”-Ansätzen).

Herr Feierabend, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Marcus Klug. Besuchen Sie auch die Homepage zum Projekt “Pleno”. Hier der Link: http://dreimorgen.com/projekte/markenentwicklung-fuer-pleno.

Quellenangaben zu den Fotos:

Foto: Foto wurde von der Agentur Dreimorgen zur Verfügung gestellt

Foto: www.cronsetten-haus.de/node/15

Foto: Foto wurde von der Agentur Dreimorgen zur Verfügung gestellt

Foto: Foto wurde von der Agentur Dreimorgen zur Verfügung gestellt

 

Felix Feierabend ist seit dem Abschluss seiner Ausbildung zum Mediengestalter bei Dreimorgen als Mitinhaber hauptsächlich für den Bereich “Digital” sowie für Projektleitung und Finanzen zuständig. Schon früh setzte er sich mit den Möglichkeiten digitaler Medien und menschlicher Interaktion im Web auseinander. Seine Erfahrungen in den Bereichen Soziale Medien, Interfaces und Webapplikationen machen ihn zu einem kompetenten Partner für die Entwicklung digitaler Marken. Kontakt: ff@dreimorgen.com.

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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