Der Weg zum Verstehen: Fallbesprechungen als Lernprozess

Grundlage für die Arbeit mit Menschen mit Demenz ist eine verstehende Grundhaltung. “Wie sieht der Weg zum Verstehen bei Fallbesprechungen aus?”, fragt der Pflegewissenschaftler Christian Müller-Hergl. Dazu führt er ein konkretes Fallbeispiel an, das zusätzlich als Video vorliegt.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um weiterführende Reflexionen zu Fallbesprechungen in der Arbeit mit Menschen mit Demenz. Die Basis zu den Reflexionen bildet ein konkretes Fallbeispiel, welches erstmalig auf der Tagung “Möglichkeiten und Grenzen psycho-sozialer Interventionen bei Demenz” präsentiert worden ist, die am 25. Februar 2015 an der Universität Witten/Herdecke ausgetragen wurde. Das Fallbeispiel kann zudem als Video abgerufen werden (siehe dazu das im unteren Teil dieses Beitrags beigefügte Video).

Das Fallbeispiel

Bei dem Fall geht es um einen Mann, der gegen seinen Willen unter Vorspiegeln falscher Tatsachen in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Der Mann wundert sich darüber, dass seine Ehefrau ihn nicht wieder nach Hause mitnimmt. Der nur als Kurzzeitpflege gedachte Aufenthalt verwandelt sich in einen Daueraufenthalt. Dies hängt damit zusammen, dass sich der Klient gegenüber der Ehefrau und den ambulant Pflegenden immer wieder aggressiv und abweisend verhält. Die Ehefrau will ihren Mann nicht mehr Zuhause haben, kann diese Entscheidung aber nicht offen kommunizieren. Bei Besuchen im Heim entzieht sie sich eher heimlich ohne Verabschiedung. Die Pflegenden übernehmen zunehmend die Rolle, den Klienten anschließend zu beruhigen und zu vertrösten. Dies erweist sich mit der Zeit immer weniger als erfolgreiche Strategie, da der Klient sich betrogen und belogen fühlt. Ein Fallbesprechung wird angesetzt.

Verstehen als Grundvoraussetzung

Grundlage für die Arbeit mit Menschen mit Demenz ist eine verstehende Grundhaltung. Dies bedeutet mehr als ein Entschlüsseln von Zeichen und Sätzen, sondern heißt, die Person zu kennen, sie in ihren Lebensbezügen wahrzunehmen und ihre Empfindungen nachzuvollziehen. Verstehen ist nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein ästhetischer Akt – so wie man ein Musikstück oder ein Kunstwerk versteht.

Der mögliche Ablauf einer Fallbesprechung

Eine Fallbesprechung kann teamintern oder einrichtungsübergreifend erfolgen. Idealerweise bereitet die Bezugspflegekraft alle vorliegenden Informationen auf, fragt bei Ärzten und Angehörigen bei Bedarf nach. Fallbesprechungen können regelmäßig oder – wie im vorliegenden Fall – aus aktuellem Anlass heraus erfolgen. Der Fallbringer präsentiert seine Informationen, die durch Nachfragen ergänzt und abgerundet werden. Nach einer Zusammenfassung durch den Fallmoderator beginnen die Assoziationen: die Teilnehmenden versuchen, sich in den Fall hinein zu versetzen, Phantasien zu entwickeln, Parallelen zu bekannten Situationen zu entwickeln. Diese Assoziationen werden verknüpft zu einer Verstehenshypothese: Welchen Sinn hat das Verhalten aus Perspektive des Klienten? Dies erbringt oft eine neue Bewertung des “Falls”, so dass sich das innere Bild vom und die Haltung zu dem Klienten verändert. Insgesamt dient die Methode dazu, die Subjektposition des Klienten und sein Personsein wieder deutlich zu machen. Abschließend werden lösungs-, haltungs- und emotionsorientierte Lösungen entwickelt, die zur Entspannung oder Verbesserung der Fallsituation beitragen könnten.

“Fallbesprechungen stellen (…) die eigentliche Mitte des Pflegeprozesses dar, in dem sich ein Team über einen Klienten verständigt, eine Pflegediagnose – hier: Verstehenshypothese – formuliert und ein einheitliches Vorgehen entwickelt.” – Christian Müller-Hergl

Das Bild zu einer Person

Wie kann sich ein Team dem Verstehen eines Klienten annähern, wie kann es das lernen? In der Regel kennen Pflegende nur wenig vom Klienten – über das Erleben und Erfahren des Klienten ist wenig bekannt. Der Blick ist oft einseitig geprägt von den funktionalen Notwendigkeiten, in die der Kontakt eingebettet ist. Dennoch macht jeder Pflegende unterschiedliche Erfahrungen und lernt den Klienten im pflegerischen Zusammensein unterschiedlich kennen. Daher lohnt es sich, das vorhandene Wissen und die gemachten Erfahrungen zusammenzutragen und sich ein gemeinsames Bild vom Lebenshintergrund der Person zu erarbeiten. Dann kann das Verhalten besser eingeordnet und verstanden werden.

Die Offenlegung des Fallbeispiels

Im vorliegenden Fall liegen alle Fakten offen zutage: die Pflegenden lassen sich verführen, eine Pufferfunktion zwischen dem neu eingezogenen Herrn und seiner Familie einzunehmen, obwohl sie dazu keinen Auftrag haben. Sie “erben” zudem die Schuldgefühle der Ehefrau und kompensieren das Gefühl des Klienten von Betrug und Verlassenheit, das durch den Weggang der Ehefrau erzeugt wird. In dieser unglücklichen Retterpositon angekommen, können die Pflegenden eigentlich keine eigene professionelle Beziehung zum Klienten aufbauen und verstricken sich in die familiare Dynamik. Der Klient wiederum fühlt sich von allen Seiten in seinem Anliegen verlassen und verschaukelt, reagiert zunehmend ungehalten und aggressiv. Es ist zu befürchten, dass Team und Klient in eine ausweglose Situation geraten mit der möglichen Folge, dass der Klient hospitalisiert wird und das Stigma des “aggressiven Patienten” erhält.

Noch einmal: alles liegt offen zu Tage und dennoch verstrickt sich das Team in eine Geschichte von Täuschung und Tröstung in dem Bemühen, dem Klienten das Verweilen zu erleichtern und eben dadurch die Ehefrau zu entlasten. Eben durch das “Mitspielen” wird die Vertrauensbasis verscherzt. In einer schwedischen Studie zur Kommunikation mit Menschen mit Demenz heißt es dazu:

“Interventionen, die ausschließlich darauf zielen, die Person zu beruhigen, abzulenken, zu bestätigen, die jede Auseinandersetzung mit der Erkrankung ihren Folgen vermeiden, die jeder Konfrontation mit Defiziten aus dem Weg gehen sind demnach – wenn einseitig betrieben – kontraproduktiv, weil sie die Person in der Aufrechterhaltung eines zunehmend einseitigen bis irreführenden Bildes von sich selbst bestätigen und die Integritätsbemühungen der Identitätsarbeit unterlaufen. Zu positiv zu sein und so zu tun, als gäbe es keine Probleme, kann sich abwertend auswirken” (Ericsson 2011).

“Sanfter Realismus”

Das Team ringt sich dazu durch, dem Klienten reinen Wein einzuschenken, mit Bedacht und in verträglichen Dosen. Ein Mitarbeiter verbleibt nach den wiederholten Eröffnungen längere Zeiten beim Klienten und versucht, ihn wieder im Hier und Jetzt zu verankern. Dazu gehören das sanfte Herausführen aus den aufgewühlten Emotionen, einen entspannten Kontakt zur Ehefrau zugänglich zu machen und die Situation zu akzeptieren. Langsam nach drei Wochen legt sich die Verzweiflung des Klienten und er beginnt, sich den veränderten Bedingungen anzupassen.

Diese als “sanfter Realismus” (gentle realism: de Witt 2014) beschriebene Strategie entspricht der Brückenfunktion, die Pflegende oft wahrnehmen: zwischen den Realitäten und Personen Übergänge zu schaffen, die Anpassung an eine veränderte Realität zu erleichtern, Abschiede zu vollziehen, sich dabei authentisch zu verhalten und das vorhandene Potenzial unter den gegebenen Umständen so gut wie möglich zur Geltung zu bringen. (Sauter 2004)

Fazit

Fallbesprechungen stellen eine Lernsituation dar, in der alle Beteiligten einüben können, das Verhalten eines Klienten aus verschiedenen Perspektiven, besonders aber aus der seinigen, als sinnvoll zu betrachten. Die eigene Rolle und der eigene Beitrag zur Situation wird deutlich, die Verstrickungen, auf die man sich unbedarft eingelassen hat. Es kann dazu beitragen, abstrakte Konzepte (beispielsweise von psychiatrischen Erkrankungen) mit konkreten Fallsituationen zu verbinden und damit an Fachlichkeit zu gewinnen. Vielleicht nicht immer, aber in doch vielen Fällen trägt ein anderes Verständnis des Klienten und die Veränderung des “inneren Bildes” dazu bei, die eigenen Gegenübertragungen – also gefühlten Ärger, Angst, das Genervtsein – im Zaum zu halten und stattdessen eine gelassene, zugewandte Haltung zu entwickeln. Fallbesprechungen sind daher auch eine Form der Selbst- und Teampflege.

Im gemeinsamen Lernen lernen sich Pflegende im Team besser kennen, können eigene Urteile revidiert werden: hier geschieht zuweilen Supervision durch die Hintertür. Da das Team hier gemeinsam überlegt und lernt, ist damit zu rechnen, dass Veränderungsimpulse auch wirksam in die Praxis umgesetzt werden. Fallbesprechungen stellen damit die eigentliche Mitte des Pflegeprozesses dar, in dem sich ein Team über einen Klienten verständigt, eine Pflegediagnose – hier: Verstehenshypothese – formuliert und ein einheitliches Vorgehen entwickelt.

Weiterführende Literatur:

  • de Witt L., Ploeg J. (2014). Caring for older people living alone with dementia: Healthcare professionals’ experiences. Dementia (ahead of print), DOI: 10.1177/1471301214523280.
  • Ericsson I., Hellström I., Kjellström S. (2011). Sliding interactions: An ethnography about how persons with dementia interact in housing with care for the elderly. Dementia, 10(4), 523-538.
  • Sauter D., Abderhalden C., Needham I., Wolff S. (Hrsg.) (2004). Lehrbuch Psychiatrische Pflege, Verlag Hans Huber, S. 47.

Christian Müller-Hergl ist Philosoph und Theologe. Er arbeitet u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Dialog- und Transferzentrum (DZD) an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Demenz und Gerontopsychiatrie. Er ist zudem strategischer Leiter und Trainer für Dementia Care Mapping-Verfahren, eine ursprünglich von Tom Kitwood und Kathleen Bredin in England entwickeltes personenzentriertes Evaluations- und Beobachtungsverfahren. Kontakt: Christian.Mueller-Hergl@uni-wh.de.

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