Sexualität einen Raum geben: Nachbericht zur Tagung

Eine Sexualbegleiterin erzählt aus ihrem Alltag, ein Jurist fragt “Gibt es ein Recht auf Sexualität?” und der Schwerpunkt am 24. Februar: Sexualität und Demenz.

Obwohl unsere Gesellschaft immer älter wird, ist die Diskussion um sexuelle Bedürfnisse von älteren Menschen noch immer ein Thema, über das man lieber nicht spricht. Dies gilt insbesondere auch für den Zusammenhang von Sexualität und Demenz. In der professionellen Pflege kann dieses Thema jedoch nicht einfach verschwiegen werden, gehört Sexualität doch zu den Grundbedürfnissen. Aber wie verändert sich unsere Sexualität im Alter? Was bedeutet Demenz für die Intimität in Partnerschaften? Und wie sieht es mit dem Recht auf Sexualität in den Pflegeeinrichtungen aus?

Derartige Fragen standen bei der Tagung “Sexualität einen Raum geben”, die am 24. Februar 2016 vom Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) an der Universität Witten/Herdecke ausgetragen wurde, im Mittelpunkt. Während der Schwerpunkt am Vormittag auf wissenschaftlichen Grundlagen lag, stand der Rest des Tages für den Brückenschlag in die Praxis.

Theoretische Grundlagen

Nach den Grußworten von Prof. Dr. Martin Butzlaff (Präsident der Universität Witten/Herdecke), Prof. Christel Bienstein (Department für Pflegewissenschaft) und Gunnar Peeters (Landesvertretung vdek-Die Ersatzkassen), vermittelte der Pflegewissenschaftler Christian Müller-Hergl (Dialog- und Transferzentrum Demenz) Grundlagenwissen zum Thema Sexualität und Alter. Dabei betonte er in seinem Vortrag den Aspekt der Intimität, der in der Alterssexualität an Bedeutung gewinnt. Auch können Männer, die im Alter häufiger Sex haben, besser schlafen und ihr psychisches Wohlbefinden steigern, während Frauen, die im Alter häufiger Sex haben, weniger ängstlich sind, so die Ergebnisse einzelner wissenschaftlicher Studien, die Müller-Hergl in seinem Grundlagenvortrag zitierte. Im Anschluss widmete sich der Pflegewissenschaftler Georg Franken (Dialog- und Transferzentrum Demenz) der Frage, welcher Zusammenhang zwischen Sexualität und Demenz besteht? Dabei ging er zunächst auf die Frage ein, was Demenz für die Intimität in Partnerschaften bedeutet? Die Lust auf Sex schwindet bei Ehepartnern mit den Belastungen, die sie als pflegende Angehörige gegenüber ihrem Partner empfinden. Und wie sieht es mit den Pflegenden in Organisationen aus, was den Umgang mit Sexualität anbelangt? “Intime Verhaltensweisen”, so Franken, “gehören in Pflegeheimen ein Stück weit zum Alltag, wobei Pflegende eher eine problemorientierte Haltung einnehmen.”

Die Referenten von links nach rechts (mit Ausnahme von Prof. Dr. Martin Butzlaff, Georg Franken und Theo Kienzle): Bettina Stange, Andrea Bergstermann, Stephanie Klee, Prof. Christel Bienstein, Detlef Rüsing, Gunnar Peeters und Christian Müller-Hergl

Der abschließende Vortrag am Vormittag kam von Andrea Bergstermann (Einrichtungsleitung Altenwohnheim im Hermann Kleiner Haus, Dortmund). Bergstermann hat über viele Jahre in der Altenpflegeausbildung zum Thema Umgang mit Sexualität unterrichtet. An diesem Tag stellte sie verschiedene Leitfragen vor, die in ihrem Unterricht eine zentrale Rolle spielten. Leitfragen wie etwa “Welche unterschiedlichen Bedeutungen kann Sexualität für den älteren Menschen haben?” oder auch: “Welche Faktoren beeinflussen die Sexualität pflegebedürftiger älterer Menschen am meisten?”.

Brückenschlag in die Praxis

Für Pflegeeinrichtungen stellt der Umgang mit Sexualität eine echte Herausforderung dar. Am Nachmittag eröffnete Bettina Stange mit einem Erfahrungsbericht aus der stationären Altenpflege (Pflegedienst und Heimleitung; Qualitätsmanagerin, Berlin). “Aus Heimleitungsperspektive ist es ein Prozess, in dieses Thema hineinzukommen”, so Stange. In ihrem Vortrag veranschaulichte sie diesen Prozess an einzelnen Fallbeispielen. So erzählte sie beispielsweise die Geschichte von Herrn B. und Frau D.. Beide Personen hatten eine Demenz im Frühstadium, als sie sich im Pflegeheim einander annäherten. Auch die Tochter von Frau D. war offen gegenüber dieser Beziehung, aber mit der Zeit zog sich ihre Mutter immer weiter zurück, während Herr D. weiterhin auf seine sexuellen Bedürfnisse pochte, bis er sich schließlich auch immer weiter vom sozialen Geschehen abkoppelte.

Die Lösung des Problems: Herr D. bekam Besuch von einer Sexualassistentin. “In dem Augenblick”, so Frau Stange, “ist Herr D. wieder aus dem Zimmer gegangen. Er war wie ausgetauscht.” Für Frau Stange, so das Resümee am Ende ihres Vortrags, kann ein offener Umgang mit Sexualität in Pflegeeinrichtungen nur gelingen, wenn die Mitarbeiter stärker in die Thematik mit einbezogen werden ‒ etwa durch Fallbesprechungen und Teamsitzungen.

Mit rund 100 Personen aus der professionellen Pflege- und Gesundheitsbranche war die Tagung “Sexualität einen Raum geben” relativ gut besucht.

Auch in rechtlicher Hinsicht besteht das Grundrecht auf Sexualität. Dies verdeutlichte der Jurist Theo Kienzle (Aus-, Fort- und Weiterbildung: Recht in der Pflege und Betreuung, Mosbach) in seinem Vortrag an Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes. Zu der Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung gehört ebenso die Sexualität. Bemerkenswert war auch der Hinweis auf die Unverletzlichkeit der Wohnung, die in Pflegeeinrichtungen häufiger übersehen wird, so Kienzle. Denn wer in Heimen wohnt, darf sich dort sexuell frei entfalten und auf seine Privatsphäre bestehen, solange er oder sie keine verbotenen sexuellen Handlungen praktiziert.

Das Recht auf Sexualität ist auch ein wesentliches Thema für die Sexualbegleiterin Stephanie Klee (Agentur für Begleitung, Service, Vermittlung und Bildung, Berlin). In ihrem Vortrag gab sie Einblicke in ihrem Alltag. So kämpft sie mit teils konträren Auffassungen von Betreuern, Pflegenden und Angehörigen, wenn es um das Ausleben von sexuellen Bedürfnissen ihrer Klienten geht. Dabei machte sie schnell klar, dass Sexualität im Alter auch viel mit Intimität, Krankheiten und Zerbrechlichkeit zu tun hat, dass Sexualität auf der anderen Seite aber gleichfalls ein Grundbedürfnis wie Arbeit, Essen und Trinken darstellt: und zwar von der Wiege bis zur Bahre.

Quellenangabe zu den Fotos:

Fotos: Jürgen Appelhans

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