Klassiker neu gelesen: Das erschöpfte Selbst_Teil 1

Der Soziologe Alain Ehrenberg hat einen modernen Klassiker geschrieben: “Das erschöpfte Selbst”. In diesem Jahr ist dieses Buch neu aufgelegt worden. Ehrenberg betrachtet Erschöpfung in der Form der Depression als soziale Störung. Marcus Klug beschäftigt sich in seiner Buchbesprechung auch mit der Frage, worin die Erschöpfung bei Demenz besteht, und was diese Störung mit Ökonomie zu tun hat.

Für gewöhnlich betrachten wir Erschöpfung als individuelles Problem: Jemand ist überlastet, überarbeitet, überfordert. Das kann in der Pflege sein oder in anderen weniger menschenbezogenen Berufen, etwa in der Informationsbranche. Das kann aber auch in der privaten Zeit geschehen, jemand hat sich beispielsweise sportlich zu viel vorgenommen und ist vom Fahrrad gestürzt. Und dann wäre da noch die alleinerziehende Mutter: auch sie fühlt sich vielleicht häufiger erschöpft, weil einfach so viele Aufgaben gleichzeitig anfallen, die sie unter einem Hut zaubern muss.

Wenn die Erschöpfung zu einem dauerhaften Phänomen wird, sprechen wir von Depression. Wobei keine einheitliche Definition von Depression existiert, so wie auch keine einheitliche Definition von Demenz existiert. Nach wie vor wird darüber gerätselt, wie sich Depression und Demenz definieren lassen könnten. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg stellt in seinem modernen Klassiker “Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart” bezüglich des Definitionsversuches von Depression fest: “In der Psychiatrie hat die Depression die Rolle eines vagen Sammelbegriffs, und das aus gutem Grund: Die Psychiater können sie nach wie vor nicht definieren. Dass die Wahl auf diesen Begriff fiel, resultiert aus der Kombination von psychiatrieinternen Elementen und tiefgreifenden normativen Veränderungen in unserer Lebensweise” (Ehrenberg 2015: 25).

Das Buch von Ehrenberg wurde erstmals 1998 in Frankreich publiziert und erschien in Deutschland zuerst im Jahr 2004. Die Neuausgabe wurde in diesem Jahr im Campus Verlag veröffentlicht: “Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart” (2015). Das Buch hat weltweit für Diskussionen gesorgt und zahlreiche Debatten in der Forschung und Öffentlichkeit ausgelöst.

Die Kernbotschaft von Ehrenberg: Das Streben nach Selbstverwirklichung und Eigenverantwortung stellen in unserer modernen Gesellschaft von heute häufig wie selbstverständlich angenommene Werte dar. Die Kehrseite des modernen ökonomischen Imperativs “Sei doch einfach du selbst bei größtmöglicher Produktivität!” ist die rigorose Erschöpfung, die Kapitulation vor der Selbstverwirklichung und permanenten Selbstoptimierung, die unter anderem mit Leere, Antriebslosigkeit und Suchtverhalten “bezahlt” wird.

Depression und Demenz

Die Depression ist ein Sammelbecken für alle möglichen Leiden, die mit Erschöpfung zusammenhängen. Sie ist daher nicht auf eine Ursache beschränkt, sondern sie kennt viele Ursachen, sie tritt somit nicht “mono-”, sondern “multikausal” auf. Aufzählungen dieser Art: Schwermut – Melancholie – Anpassungsstörung – Freudlosigkeit – Schlafstörungen – Konzentrationsstörung – Innere Unruhe – Sinnestäuschung – Wahn – Halluzinationen und so weiter und so weiter; die Liste ist wirklich erstaunlich lang.

Einige Begriffe aus dieser Liste kennen wir auch von Demenz: beispielsweise Freudlosigkeit – Schlafstörungen – Konzentrationsstörung – Innere Unruhe – Sinnestäuschung – Wahn – Halluzinationen; all diese Phänomene können also nicht nur bei Depression, sondern auch bei Demenz auftreten oder im Zusammenspiel zwischen Depression und Demenz. Bei dem Versuch, die Depression genauer medizinisch-psychiatrisch einzuteilen, hieß es früher in der traditionellen klinischen Einteilung “depressive Symptome bei Demenz”, während heutzutage im ICD-10 von “Demenz und vorwiegend depressiven Symptomen” die Rede ist.

Der ICD-Schlüssel ist eine medizinische Klassifikation zur Systematisierung von Diagnosen. Die Abkürzung “ICD” steht für “International Classification of Diseases” (ins Deutsche übersetzt: “Internationale Klassifikation von Krankheiten”). Derartige Klassifikationsversuche erhöhen jedoch nicht gerade unser Verständnis für die Frage, wieso Depression und Demenz mittlerweile als Schlüsselkrankheiten des 21. Jahrhunderts betrachtet werden.

Beide Krankheiten sind in “Mode”. Während die Depression von Psychiatern in den 1940er Jahren lediglich als ein Symptom ausgelegt worden ist, das die meisten Geisteskrankheiten begleitet, wurde bereits in den 1970er Jahren – nur 30 Jahre später – von der am weitesten verbreiteten psychischen Störung der Welt gesprochen. Und nicht wesentlich anders verhält es sich heute mit Demenz. “Wir leben im Jahrhundert der Demenz”, schreibt beispielsweise Reimer Gronemeyer in seinem Buch “Das 4. Lebensalter” (2013). “Es sieht so aus, als würden die alten Industriegesellschaften, in denen die Demenz jährlich zunimmt, unter Ermüdungserscheinungen leiden. Das Einzige, was in diesen Gesellschaften noch wächst, sind offenbar die Zahl der Alten und die Zahl der Menschen mit Demenz” (Gronemeyer 2013: 11).

Die Signaturen des neuen Zeitalters

Das Entscheidende an den Beobachtungen von Ehrenberg zur Depression ist die Auslegung, insbesondere bezogen auf die fachinternen Diskussionen (Psychiatrie – Medizin – Biologie) und den öffentlichen Diskurs zur Depression in den USA und in Frankreich – von den 1930er Jahren begonnen, bis zur Jahrtausendwende, wenn wir das Vorwort zur neuen Ausgabe von 2015 mit berücksichtigen. Obwohl beispielsweise in der Tradition der Psychoanalyse – etwa bei Freud – eine gesellschaftliche Dimension nur angedeutet wird (in “Das Unbehagen der Kultur”), scheint man die Depression hinsichtlich psychischen Leidens und mentaler Gesundheit nicht unabhängig von institutionellen und normativen Veränderungen des sozialen Lebens analysieren zu können, denn Depression ist ein komplexes Phänomen (wie auch Demenz). Für Ehrenberg wird die soziale Dimension der Depression auch in den zahlreichen Krisen von professionellen Helfern augenscheinlich. “Es sind die Probleme von Praktikern (Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern, Krankenpflegern), die an vorderster Front im Sozial- und Gesundheitswesen arbeiten und mit Bevölkerungsgruppen zu tun haben, bei denen soziale Probleme von Armut, Ungleichheit oder Ungerechtigkeit einerseits und psychologische oder psychopathologische Probleme anderseits miteinander verquickt sind” (Ehrenberg 2015: 13).

Auf der anderen Seite verschwinden diese Störungen zunehmend aus den Sprachspielen der Ökonomie. Wir sprechen heute weder von “Krankheiten” noch von “Störungen”, sondern von “Gesundheit” – so die Tendenz. Kritische Stimmen betrachten diese Entwicklung als “neoliberalistische Umdeutung sozialer Störungen unter dem Deckmantel der Gesundheit”. Sätze wie “Demenz ist keine Krankheit” tendieren – kritisch ausgelegt – in eine ähnliche Richtung. Ehrenberg betrachtet diese Entwicklung wie folgt: “Weil sich die Frage mentaler Gesundheit mit Pathologien befasst, die in den Beziehungen auftreten und die Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen, erscheint mentale Gesundheit als ein Zusammenhang von Praktiken, deren zentraler Wert die Persönlichkeitsveränderung ist (…) Das Neue ist, dass sich diese Veränderungen in der Sprache von Kompetenzen und Fähigkeiten ausdrücken” (Ehrenberg 2015: 20). “Kompetenzen und Fähigkeiten”: Das sind Begriffe aus den Sprachspielen der Ökonomie.

Weiter gedacht: Es häufen sich die Indikatoren für neue gesellschaftliche Störungen, die nicht Folge einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns sind, sondern Folgen tiefgreifender soziökonomischer Belastungen. Siehe dazu auch folgenden Link: “Die Störung des Ökonomisierungswahns”. Es geht in diesem Zusammenhang auch um Verschleierung und Maskerade, um Kriseninterventionen und Machterhalt. Oder anders formuliert: Die Folgen “falscher” Ökonomisierung werden in andere gesellschaftliche Teilsysteme ausgelagert. Zugespitzt und überhöht: “Der neue wahnsinnige Mensch ist der Arbeitsgeschädigte”; “Burn-out” ist eine schöne Beschreibung dafür. Derartige Phänomene sind außerdem von anderen “ungünstigen sozialen Verhältnissen” begleitet. “Ungünstige Verhältnisse” – wie Einsamkeit, geringes Einkommen, Arbeitslosigkeit. Das lässt sich auch statistisch belegen.

Depression im Wandel der Zeit

“Wenn es um das depressive Gemüt geht, verspricht die Wissenschaft Ergebnisse, die an Magie erinnern. Bevor man sie bewertet, muss man betonen, dass sie auf soziale Sehnsüchte antworten und auf Probleme, denen sich heute die Person gegenübersieht. Zunächst zeigt die neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Leiden die Pathologien der ökonomischen Krise an, deren Traumata und Nöte sich in der Psychiatrie durch die Depression äußern” (Ehrenberg 2015: 243).

In diesem Sinne setzte die medizinisch-psychiatrische Betrachtung der Depression zunächst in den 1940er Jahren an und wurde lediglich als ein Symptom ausgelegt, das die meisten Geisteskrankheiten begleitet hat. Der Depression wurde zu dieser Zeit noch keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vorausgegangen waren die “Goldenen Dreißiger” in den USA, eine wirtschaftlich florierende Zeit, so Ehrenberg in seinem Buch, geprägt von Optimismus und Wohlstand, bevor die große Wirtschaftskrise folgte. Depression und Ökonomie hängen zusammen. Zunächst sind nur einzelne Individuen von psychischen Verstimmungen betroffen, bevor mit größeren wirtschaftlichen Krisen die Pathologien und Störungen in breitere Gesellschaftsschichten einsickern. Zudem wurde in den 1950er Jahren an Medikamenten geforscht, welche die Psyche beruhigen sollte und eine Milderung der Depression versprachen. “Psychopharmaka” – der Begriff stammt aus dieser Zeit. 1955 beginnt der pharmazeutische Wettlauf: Psychopharmakologische und neurobiologische Forschungen, Konferenzen und Gesellschaften für Psychopharmakologie vervielfachen sich. Gleichzeitig entwickelt sich in dieser Zeit ein “ganzheitliches” therapeutisches Verständnis in der Bekämpfung der Depression. “Ergotherapie, institutionalisierte Therapie und Schocktherapien ermöglichen einen neuen Kontakt zwischen Mediziner und Kranken, gaben dem Pfleger eine therapeutische Funktion und förderten den Dialog zwischen ihm und dem Psychiater” (Ehrenberg 2015: 129).

Mit dem gesellschaftlichen Wandel gegen Ende der 1960er Jahre tritt zudem ein verändertes Grundverständnis gegenüber der Depression ein; mit der Aufforderung zu mehr Selbstverwirklichung und Emanzipation wird die Depression zunehmend mehr als “Krankheit der Verantwortlichkeit” betrachtet, so Ehrenberg. Wo vorher die Regeln des Gehorsams oder religiöse Werte wichtige gesellschaftliche Bezugspunkte darstellten, wurde jetzt also immer mehr von Befreiung, Streben nach Erfolg sowie Selbstverwirklichung gesprochen; die Wende zum “liberalen Zeitalter”. Hinzu kommt die Bedeutung der Massenmedien in dieser Zeit: “Die Medien befreien ihre Leser von Schuldgefühlen und liefern die Worte zur Formulierung psychischer Probleme. Sie bereiten dem Psychischen einen öffentlichen Raum und prägen den Stil einer Psychologie für die breite Masse” (Ehrenberg 2015: 153).

Fazit

Ich habe sehr viel über die mehrfache Lektüre des hellsichtigen Buches von Ehrenberg gelernt. Insbesondere ist mir der Zusammenhang von Depression und Demenz in sozialer Hinsicht – als Störung – klarer geworden. Depression und Demenz bringen die übermäßige Ökonomisierung unseres Lebens ins Ungleichgewicht; sie sensibilisieren uns also auch für die Folgeschäden, die mit “falscher” Ökonomisierung einhergehen können, sie rütteln uns wach für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, wenn man sie soziologisch umdeutet. Wo ich bei Depression in der Erschöpfung mit der Kehrseite des Traumes eines perfekten Egos konfrontiert werde, erscheint die Demenz als häufig später Widerhall auf erste sporadische Episoden der Erschöpfung: Das überoptimierte Ich löst sich allmählich in der Demenz auf.

Eine chronische Regression; wir können daran etwas ändern.

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Das Buch “Das erschöpfte Selbst” von dem französischen Soziologen Alain Ehrenberg ist im Campus Verlag erschienen. Hier der Link zum Buch.

Quellenangaben zu den Fotos:

Foto: Petr & Bara Ruzicka / www.flickr.com

Foto: Bundesarchiv

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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