Der Psychologe Wilhelm Schmidbauer hat bereits in den 1970iger Jahren das Wort vom “Helfersyndrom” geprägt. Heute ist dieses Wort Teil der Alltagssprache geworden. In Wahrheit geht es darum, die besonderen seelischen Risiken der helfenden Berufe genauer zu erkennen. Marcus Klug hat den Klassiker “Hilflose Helfer” von Schmidbauer neu gelesen und sich die Frage gestellt, inwieweit die Trennung zwischen dem Selbst und den anderen als Problem aufgelöst werden kann.
Helfende Berufe werden zumeist mit dem Motiv zum altruistischen Verhalten verbunden. Daher denken zunächst einmal nur wenig Personen an Narzissmus, wenn von Pflege oder anderen sozialen Berufen die Rede ist. Bemerkenswerterweise ist der Begriff vom “Helfersyndrom”, den der Psychologe Wolfgang Schmidbauer in seinem erstmals 1977 erschienenen Klassiker “Hilflose Helfer” geprägt hat, eng mit dem Begriff “Burnout” verbunden. Nur ein paar Jahre zuvor – also vor dem Erscheinen des Buches von Schmidbauer – hatte nämlich der New Yorker Psychotherapeut Herbert Freudenberger den Begriff “Burnout” erfunden.
Freudenberger beobachtete zu dieser Zeit gerade an besonders engagierten Menschen in sozialen Berufen, wie stark die Gefahr sein konnte, durch länger anhaltendes übermäßiges Engagement zu einem Zustand der vollkommenen Ich-Erschöpfung zu gelangen. Betroffen waren vor allem Lehrer und Sozialarbeiter. Schmidbauer erweiterte diesen Kreis in seinem Buch “Hilflose Helfer” um weitere helfende Berufe wie eben auch Krankenschwestern, Altenpfleger und Ärzte.
Größenselbst und Größenklein
Hinter der Fassade geht es längst nicht nur um die individuelle psychische Belastungsgrenze von professionellen Helfern oder um den Umgang mit Stress, sondern ebenso um eine verdeckte Form des Narzissmus. Vereinfacht formuliert: Wer ständig nur mental um seine eigenen Probleme und Sorgen kreist, diese aber in der Pflege von sich weist und auf diejenigen Personen überträgt, die er pflegt, ist auch ein Narzisst. Schmidbauer sagt zu diesem verdeckten Mechanismus etwa folgendes: “Helfer-Ehrgeiz und Helfer-Resignation hängen eng zusammen (…) Dabei ist oft nicht deutlich, ob der Ehrgeiz nun als Reaktionsbildung gegen die Resignation zu verstehen ist oder ob umgekehrt die Resignation einen heftigen Ehrgeiz verdeckt” (Schmidbauer 1995: 97).
Damals (im Jahr 1977 und nach dem Erscheinen von “Hilflose Helfer”) ist Schmidbauer leider häufig missverstanden worden, etwa in dem Sinn, dass Helfer neurotisch sind oder auch nur aus egoistischen Motiven handeln. Deshalb möchte ich an dieser Stelle betonen, dass verdeckte Formen des Narzissmus keineswegs die Hauptgründe für “Burnout” sein müssen. Dennoch scheint es mir aktuell wieder sehr lohenswert zu sein, über die Trennung zwischen dem Selbst und den anderen nachzudenken und das Buch von Schmidbauer zu lesen – gerade auch im Bezug auf die Pflege von Menschen mit Demenz, wo viele psychische und krankheitsbedingte Probleme anzutreffen sind. Denn meiner Meinung nach können wir nur dann wirklich gut pflegen, wenn wir auch ein gesundes Verhältnis zu uns selbst entwickeln.
Leider kommt es mir jedoch aktuell sehr häufig so vor, als ob wir heute immer seltener Menschen begegnen, die ein wirklich gesundes Verhältnis zu sich selbst haben. Stattdessen leben wir heute vielfach im Zeitalter der Extreme: irgendwo angesiedelt zwischen “Größenselbst” und “Größenklein”, wie etwa der Psychiater Hans-Joachim Maaz 2012 in seinem empfehlenswerten Buch “Die narzisstische Gesellschaft” geschrieben hat.
Das Helfersyndrom
Es gibt eine “gesunde” und weniger “gesunde” Form von Narzissmus, so könnte man zunächst sagen. Ein gestörtes Selbstverhältnis fängt erst da an, wo Selbstkritik und Selbstzweifel im Missverhältnis zum Selbstbewusstsein stehen. Das Gleichgewicht ist also aus den Fugen geraten. In diesem Zusammenhang definiert Schmidbauer das “Helfersyndrom” als das Bedürfnis, so oft wie möglich von außen die dankbare Zuwendung von hilfebedürftigen Menschen zu erlangen, die der professionelle Helfer “für seinen scheinbaren Verzicht auf eigene Bedürfnisbefriedigung erhält” (Schmidbauer 1995: 87). Dabei haben wir es hier eindeutig mit einer gestörten (Selbst-)Beziehung zu tun.
Warum? “Der am Helfersyndrom Leidende kann gewissermaßen im narzisstischen Bereich kein Fett ansetzen. Er ist nicht dazu in der Lage, einen Vorrat an narzisstischer Libido zu speichern, der ihm über schlechte Tage hinweghilft, ihm das Gefühl vermittelt, zwar manchmal zu versagen (…), doch im großen und ganzen tüchtig, beliebt, liebenswert und wertvoll zu sein. Er muss dauernd trachten, sich diese narzisstische Zufuhr von außen zu verschaffen, und erfährt einen Zusammenbruch seines Selbstgefühls mit heftigen Aggressionen gegen sich selbst und gegen andere (…), wenn der Zustrom an Bestätigung von außen zu versiegen droht, Kritik sich bemerkbar macht usw.” (Schmidbauer 1995: 87).
Auf heutige gesellschaftliche Verhältnisse bezogen und weniger psychoanalytisch betrachtet, würde ich sagen: Professionell Helfende, die ihre eigenen Bedürfnisse zu stark verleugnen, verlieren sehr viel an Energie für die intensivere Auseinandersetzung mit Menschen, die sie pflegen. Da die scheinbare Ich-Bestätigung in der Hilfe hier nur über die Verleugnung der eigenen Bedürfnisse funktioniert (was ohne Zweifel paradox ist), kann auch keine echte Beziehung zu Menschen aufgebaut werden, die man pflegt. Es bleibt also bei der Trennung zwischen dem Selbst und den anderen.
Hilfe für Helfer
Ich persönlich kann psychoanalytischen Begriffen wie “Ich”, “Es” und “Über-Ich” nicht allzu viel abgewinnen. Allerdings leuchtet auch mir ein, dass überhöhte Ideale oder besonders stark ausgeprägte Ängste, die auch etwas mit der eigenen Sozialisation zu tun haben, dazu beitragen können, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht gebührend wahrzunehmen. Es gibt viele professionelle Helfer, auf die dieses Problem zutrifft. Professionell Pflegende, die etwa Menschen mit Demenz betreuen, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse jedoch in der Beziehung zu diesen Menschen stark unterdrücken.
Für Schmidbauer hat das auch etwas mit der Ausbildung in helfenden Berufen zu tun. “Den Helfern wird beigebracht”, so schreibt er an einer Stelle in seinem Buch, “sich schlecht und minderwertig zu fühlen, wenn sie strengen, überfordernden Normen hinsichtlich steter Einsatzbereitschaft, Freundlichkeit, Akzeptanz, Umsicht, Überblick, Zurückhaltung, Pünktlichkeit usw. nicht genügen (…) Die Ausbildung (…) könnte auf diese Gefahr Rücksicht nehmen, indem sie Elemente der emotionalen Erziehung und Selbsterfahrung einbezieht (…) Eine engere Zusammenarbeit zwischen den gruppendynamischen Institutionen (Schmidbauer nennt unter anderem das Beispiel “Gesellschaft für analytische Gruppendynamik” (GaG); Anm. des Verfassers) und den Ausbildungsstätten für Helfer wäre hier sehr nützlich. In ihr könnte ein eigenständiges, selbsterfahrungs- und emotionsbezogenes Ausbildungsprogramm erarbeitet werden, das sich gezielt mit der psychohygienischen Vorbereitung und Überwachung der Tätigkeit in den sozialen Berufen befasst” (Schmidbauer 1995: 191).
Fazit
Liest man das Buch “Hilflose Helfer” in der heutigen Zeit, so merkt man einerseits, dass das Thema von Schmidbauer nach wie vor hochaktuell ist – nämlich die Verdrängung der eigenen Bedürfnisse in helfenden Berufen –, andererseits merkt man den Buch aber auch den ideologischen Unterbau an: Hier argumentiert eindeutig ein 68er, der unter anderem von Gruppensitzungen und Selbsterfahrungen spricht und Autorität eher negativ betrachtet. Was mir persönlich jedoch sehr wohl zu denken gibt, und hier teile ich die Meinung von Schmidbauer absolut, ist die Unterschätzung der eigenen Emotionen in der Pflege und der zugrundeliegenden Ausbildung im Umgang mit den eigenen Bedürfnissen, auch wenn wir heute vom “Zeitalter der Empathie” sprechen.
Selbstmanagement, Psychohygiene und derartige Dinge müssten meiner Meinung nach eigentlich genauso selbstverständlich sein wie das Zähneputzen am Morgen. Und dass Menschen nicht ausreichend Zeit für ihre eigene mentale Balance und persönliche Entwicklung aufwenden, ist nach wie vor in vielen helfenden Berufen ein Faktum, auch wenn wir heute schon ein wesentlich größeres Angebot für gesundheitliche Prävention haben.
Das Buch “Hilflose Helfer” von dem Psychologen Wilhelm Schmidbauer wurde seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 1977 schnell zum Bestseller und hat sich bis heute mehr als 300.000 Mal verkauft. Hier der Link zum Buch.
Quellenangabe zum Titelfoto:
Foto: hartwig HKD / www.flickr.com
Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.