Demenz und Emotionen: Wie lassen sich Emotionen in der Pflege besser erkennen?

Ein Grundsatz in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz lautet: Nehme die Gefühle der Person wahr und versuche, diese nach Möglichkeit anerkennend zu spiegeln und zu bestätigen. In Vorbereitung unserer Tagung „Gefühle lesen. Erkennen von Emotionen in der Pflege Demenzerkrankter“ wollen wir Ihnen einige grundlegende Informationen zum Thema „Demenz und Emotionen“ anbieten. Hier der erste Beitrag von dem Philosophen und Demenzexperten Christian Müller-Hergl.

Emotionen – darunter versteht man Gefühle oder Gemütsbewegungen, die nach Außen gerichtet sind und damit für andere erkennbar werden. In den Gefühlen und Gemütsbewegungen zeigt sich, wie die Person sich und ihre Umwelt erfährt. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Selbst und der Regulation von Beziehungen zu anderen Personen. Der Affekt regelt und motiviert die Beziehung zu anderen Personen.

Grundlegend für die Kommunikation: Die Spiegelung der Emotionen

Vater spiegelt das Verhalten seines Kindes: In der Erforschung neuronaler Grundlagen des Mitgefühls wird dieser Zusammenhang unter dem Begriff der “Spiegelneuronen” erforscht. Solche Neuronen wurden in den 1990iger Jahren erstmals im Gehirn von Affen gefunden. Wenn etwa ein Affe zusieht, wie der Versuchsleiter nach einer Erdnuss greift, bedeutet das in Bezug auf die Spiegelneuronen, dass er die äußere Handlung des Menschen innerlich nachspielt.

Grundlegend für die Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen ist die Fähigkeit, sich aufeinander abzustimmen (zu synchronisieren). Emotionen sind Ausdrucksformen komplexer Abstimmungsprozesse zwischen Personen. Können sich Menschen nicht aufeinander abstimmen, so entsteht Stress (asynchrone interaktionelle Beziehungsabfolge).

Warum die Emotionserkennung bei Menschen mit Demenz gestört ist

Die in der frühen Kindheit erworbenen und verinnerlichten Modelle für die Regulation von Affekten bleibt ein Leben lang in sogenannten “inneren Arbeitsmodellen” erhalten und bestimmen die Widerstandfähigkeit der Person gegen zwischenmenschlichen Stress.

Im günstigen Fall geht dies mit der Erwartung einher, Störungen der Abstimmungsprozesse bei sich selbst in Richtung “Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts” als auch zwischen Selbst und anderen Personen in Richtung Übereinstimmung und Synchronisierung zu modulieren. Es wird angenommen, dass Störungen dieser Abstimmungsprozesse (Affektregulation) allen psychiatrischen Störungen zugrunde liegen.

Im Verlauf der Demenz wird die Fähigkeit, eigene Affekte zu regulieren und sich auf andere Personen abzustimmen, beeinträchtigt. Diese Veränderung gehen mit vermehrten Belastungen sowohl für die Person wie für ihr menschliches Umfeld einher. Es wird schwerer, beieinander anzukommen und beim anderen “durchzudringen”.

Menschen mit Demenz schätzen ihre Umwelt anders ein als andere Personen, kommen dabei also zu abweichenden Situationsdefinitionen, die wiederum Affekte auslösen, welche die Umgebung schwierig findet. Ein Grund wird darin gesehen, dass die Emotionserkennung bei Menschen mit Demenz gestört ist.

Was bei Demenz erhalten bleibt

Bis in späte Phasen hinein bleibt grundsätzlich die Fähigkeit von Menschen mit Demenz, Affekte zu erkennen und auszudrücken, erhalten. Dies wird damit erklärt, dass das Emotionssystem von der menschlichen Entwicklung ein altes System ist und erst später von der Demenz betroffen ist.

Wahrscheinlich sind deswegen auch Menschen mit Demenz empfänglich für non-verbale, körpersprachliche Signale und daher auf diesem Weg eher erreichbar und beeinflussbar. Allerdings gilt für den Ausdruck von Gefühlen: Wer an Apathie leidet verliert zunehmend die Kontrolle über den eigenen Gesichtsausdruck (reduzierte Motorik). Daher werden Gefühle von Menschen mit Demenz und Apathie oft nicht wahrgenommen und beachtet.

Die Bedeutung der Körpersprache für den Ausdruck von Emotionen

Je nach dem Stadium einer Demenz wie z. B. Alzheimer fällt es nicht immer leicht, bestimmte Emotionen wie Freude zu erkennen.

Unterschiedliche Emotionen können Menschen mit Demenz am besten anhand der Körpersprache und – in zunehmend reduzierten Umfang – anhand des Gesichtsausdrucks erkennen, weniger gut anhand von Stimme und Betonung.

Insgesamt gibt es Unterschiede in der Emotionserkennung von Menschen mit Demenz und Gesunden: Je weiter die Demenz zunimmt, desto schwerer können Emotionen anderer unterschieden werden. Dabei scheinen die beeinträchtigten kognitiven Anteile der Emotionserkennung eine zentrale Rolle zu spielen. Menschen mit Demenz greifen beim Emotionserkennen verstärkt auf Körpersprache und weniger auf die Gesichts- und Augenbereiche zurück.

Reine, am Gesicht abgelesene Emotionserkennung funktioniert dagegen nicht mehr so gut. Es fällt zunehmend schwerer, die Emotionen anderer in sich “nachzubauen”. Dies gilt insbesondere für negative Emotionen. Dies bedeutet: Menschen mit Demenz können sich im Verlauf der Erkrankung immer schlechter in andere hineinversetzen (Empathie) und ihr Verhalten aufgrund negativen Feedbacks durch andere verändern oder anpassen.

Mangelnde Emotionserkennung scheint dabei auch das Verhalten gegenüber Mitmenschen zu stören: Probleme im Verhalten hängen demnach möglicherweise weniger mit der Schwere der Demenz zusammen, sondern mit dem Ausmaß, in dem Emotionen anderer nicht mehr erkannt und vorhergesehen werden können (“strategisches Gedächtnis”). Dies scheint besonders dann der Fall zu sein, wenn unterschiedliche Emotionen verschiedener Personen gleichzeitig einzuordnen sind, d. h. in komplexeren sozialen Situationen.

Emotionen bei Demenz: Worauf in der Pflege geachtet werden sollte

Verschiedene Bereiche des Gehirns sind für unterschiedliche Emotionen relevant: Je nachdem, welche Bereiche betroffen sind, ist das Erkennen von Ärger und Angst eingeschränkt. Relativ gut und lange erhalten bleibt dagegen das Erkennen von Freude und Ekel.

Entscheidend für professionelle Pflegekräfte ist somit die Erkenntnis, dass die Emotionserkennung bei einer leichten bis mittelschweren Demenz relativ gut erhalten bleibt. Pflegende Personen sollten also das emotionale Ausdruckserleben von Menschen mit Demenz im Auge behalten. Dementsprechend sollten die non-verbalen, körpersprachlichen Qualitäten der Kommunikation genutzt werden. Grundvoraussetzung bildet dabei die Beziehung zwischen dem Inhalt des Gesagten und dem begleitenden Affekt: Beide Ebenen sollten möglichst kongruent gehalten werden.

Ausblick

In den nächsten Folgen wollen wir Ihnen  weitere Hintergründe und grundlegende Erkenntnisse aus der modernen Emotionsforschung zur Beziehung von Demenz und Emotionen vermitteln. Eine wichtige Frage vor diesem Hintergrund: Wie prägt die Persönlichkeit unseren emotionalen Ausdruck? Schließlich wird es auch darum gehen, näher zu beleuchten, was der Umgang mit der Emotionalität demenzkranker Menschen fachlich für Pflege und Betreuung bedeutet. Seien Sie also gespannt!

Weiterführende Literatur:

  • Magai C., Cohen C.I., Gomberg D. (2002): Impact of Training dementia caregivers in sensitivity to ninverbal emotional signals. International Psychogeriatrics,14(1) 25-38 Bucks R.S., Radford S.A (2004) Emotion Processing in Alzheimer‘s disease. Aging and Mental Health, 8(3) 222-232.
  • Garcia-Rodrigues B. et al (2012): The effects of different attentional demands in the identification of emotional facial expressions in Alzheimer’s Disease.  American Journal of Alzheimer’s Disease and Other Dementias, 27(7) 530-536.
  • Rass E. (Hrsg), Allan Schore (2012): Schaltstellen der Entwicklung. Eine Einführung in die Theorie der Affektregulation mit seinen zentralen Texten.

Quellenangabe zu den Fotos:

Foto: Rolf K. Wegst / www.flickr.com

Foto: Kappawolff / www.flickr.com

Foto: vrot01 / www.flickr.com

Christian Müller-Hergl ist Philosoph und Theologe. Er arbeitet u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Dialog- und Transferzentrum (DZD) an der Universität Witten-Herdecke. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Demenz und Gerontopsychiatrie. Er ist zudem strategischer Leiter und Trainer für Dementia Care Mapping-Verfahren, eine ursprünglich von Tom Kitwood und Kathleen Bredin in England entwickeltes personenzentriertes Evaluations- und Beobachtungsverfahren. Kontakt: Christian.Mueller-Hergl@uni-wh.de.

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