Das Demenz des Monats: Umgang mit Wahn und Halluzinationen. Ergebnisse zu unserer zweiten Befragung

Bis zum 24. Februar 2014 konnten Sie uns Ihre Antworten auf unsere Fragen im Rahmen unserer zweiten Demenzei-Aktion zusenden. Das zweite Demenzei: Fragen zum Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen. Und hier die Ergbnisse zu unserer zweiten Diskussion.

“Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.” – Immanuel Kant

Wie auch  bei unserer letzten Demenzei-Aktion erhielten wir von Ihnen zahlreiche Antworten zu unseren beiden Fragen, die wir vorab in der Form eines Videos auf YouTube präsentiert haben.

Und das waren unsere beiden Fragen:

1. Fällt Ihnen ein Beispiel aus Ihrer eigenen pflegerischen Praxis zum Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen ein?

2. Ist der Umgang mit Wahn und Halluzinationen wirklich ein wichtiges Thema für Sie? Und wenn ja, warum?

Wissenschaftliche Rahmenempfehlungen: Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen

Bei unserer zweiten Demenzei-Aktion stellten wir im Vorfeld die Frage, welche Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen in der Wissenschaft zu entdecken sind. Siehe dazu auch folgenden Beitrag: Umgang mit Wahn und Halluzinationen: Empfehlungen aus der Wissenschaft

Grob zusammengefasst werden in der Wissenschaft zwei stark unterschiedliche Rahmenempfehlungen gemacht:

1. Erwin Böhm, Begründer des “Psychobiografischen Pflegemodells”, und Sven Lind empfehlen zur Lösung durch Wahn oder Halluzinationen ausgelöster Situationen/Krisen in den Wahn einzusteigen.

2. Bei personzentrierten Ansätzen, wie etwa “Validation nach Feil” (siehe dazu angeführtes Videobeispiel), “Mäeutik nach Cora van der Kooij” oder der “Personzentrierte Ansatz nach Kitwood”  wird ein wertschätzender und “echter (wahrhaftiger)” Umgang mit den Betroffenen empfohlen. Deshalb wird bei diesen Ansätzen auf Echtheit und Wahrhaftigkeit gesetzt. In diesem Zusammenhang bedeutet dies, dass das Mitgehen in das psychotische Erleben nach Möglichkeit nicht angewendet wird.

Wie haben Sie auf unsere beiden Fragen geantwortet?

Bei unserer ersten Frage wollten wir von Ihnen wissen, ob Sie uns ein Beispiel zum Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen aus Ihrer eigenen persönlichen Praxis nennen können. So wurde etwa als Beispiel von Ihnen die Pflege einer 70-Jährigen allein lebenden Frau mit beginnender Demenz angeführt, die unter einer wahnhaften Psychose leidet. Diese äußere sich darin, dass diese ältere Dame täglich Sachen verlege oder fest daran glaube, dass jemand bei ihr eingebrochen sei und Gegenstände gestohlen habe.

Interessanterweise gehört gerade der Bestehlungswahn zu einer in der Pflegepraxis stärker verbreiteten Wahnvorstellung. Neben dem Bestehlungswahn sind außerdem u. a. noch Verfolgungs-, Bedrohungs- und Größenwahn häufiger anzutreffen. Siehe zu den verschiedenen Wahnvorstellungen auch folgenden Link: Wahnerkennungen im Alter. Eine Broschüre für Angehörige, professionelle Helfer und Interessierte

Weitere Beispiele, die uns von Ihnen per E-Mail zugesandt worden sind, bezogen sich auch auf das Thema Halluzinationen. Etwa: Eine Frau halluziniert einen Hund. Wobei bei diesem Beispiel außerdem von Ihnen angemerkt wurde, dass es nicht darauf ankomme, ob dies nun wahr oder falsch sei (die Vorstellung, es existiere tatsächlich ein Hund), sondern wie die Frau den Hund erlebe: bedrohlich, lebendig, tröstend oder gar kuschelig?

Entscheidend ist bei einem solchen extremeren Beispiel, dass es in der Praxis häufig keine “richtigen” oder “falschen” Umgangskonzepte gibt. Es gilt vielmehr die Person, die man pflegt, besser kennen zu lernen und nicht nach einer bestimmten “Schule” zu agieren (wie u. a. nach dem mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell), sondern situationsbedingt zu agieren. Dabei spielen insbesondere auch Intuition und Empathie eine wichtige Rolle.

Neben Beispielen aus Ihrer persönlichen Praxis wollten wir von Ihnen wissen, ob der Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen wirklich ein Thema für Sie ist. Ihre Antwort darauf fiel recht eindeutig aus: Ja!

Aus Ihren Antworten zu unserer zweiten Frage ging allerdings auch hervor, dass solche Fälle (in denen Wahn, Halluzinationen und Lügen auftreten) nicht immer und überall gleichermaßen häufig anzutreffen sind. Sie bilden also nicht den Normalfall im Pflegealltag ab. Gleichwohl wird mit solchen Fällen ein ethisches Dilemma aufgeworfen, dass viele von Ihnen sicherlich gut nachvollziehen können, auch wenn Sie vielleicht bis dato in der professionellen Pflege noch nicht direkt mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen zu tun hatten. Das Dilemma rührt aus der Tatsache, dass es zuweilen in der Pflege extremere Situationen gibt, in denen wir beispielsweise Lügen in Kauf nehmen, obwohl uns das ethisch als fragwürdig erscheint.

In diesem Zusammenhang ist der Begriff der “therapeutischen Lüge” von Bedeutung.

So schrieb uns etwa eine Frau, dass eine therapeutische Lüge eine Lösung auf Zeit sei. Sie verstehe das als (seltenen) Einsatz im Pflegealltag. Wir sehen daran, dass in der Praxis an sich oftmals keine “richtige” Vorgehensweise existiert. Mal spüren wir den Bedürfnissen der Personen, die wir pflegen nach, um ihnen das Gefühl der Wertschätzung zu geben (personzentrierter Ansatz), ein anderes Mal behelfen wir uns in einer “Notsituation” mit der Lüge. Wichtig ist, so schrieb uns eine andere Person von Ihnen, dass man nicht nur nach einem Strickmuster handeln solle, sondern auch zuweilen Dinge tolerieren müsse, die einem persönlich nicht passen. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass prinzipiell alles in der Pflege erlaubt sei. Es geht vielmehr um das Abwägen und die Intuition: Wann ist welche Handlungsweise gefragt? Wie gut kennen wir die Person, die wir pflegen? Was können wir dieser Person zumuten und was nicht? Wie sieht der Kontext dazu aus? usw.

Voraussetzung bei jeder Art der Reaktion auf wahnhaftes Verhalten und Halluzinationen ist, dass man die Leute, die man pflegt, auch kennt oder auch mag, sonst ist irgendwie jede Reaktion steril, vielleicht lehrbuchhaft, aber bestimmt am Leben vorbei, so ein passendes Resumé von Ihnen am Ende dieses Beitrags.

Fazit: Die Praxis lehrt uns im Gegensatz zur Wissenschaft, dass es kein Schwarz und Weiß im Umgang mit Wahn, Halluzinationen und Lügen gibt. Die Lösung liegt zwischen personzentrierten Ansätzen und solchen Umgangskonzepten, die etwa den Einstieg in den Wahn empfehlen. Es kommt also auf die Situation an. Am Ende bleibt allerdings stets eine Überlegung im Raum stehen: Kann man die Art und Weise, wie man mit Wahn und Halluzinationen in der pflegerischen Praxis verfährt, mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren?

Detlef Rüsing ist Pflegewissenschaftler und leitet das Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) an der Universität Witten/Herdecke. Rüsing verfügt ebenso über langjährige praktische Erfahrungen in der Alten- und Krankenpflege: Er hat dort über 16 Jahre gearbeitet. Seine Schwerpunkt liegt auf Theorie-Praxis-Transfer. Daneben ist er Herausgeber von “pflegen: Demenz. Zeitschrift für die professionelle Pflege von Personen mit Demenz”. Kontakt: detlef.ruesing@uni-wh.de.

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de

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