Buchempfehlung: Wer bin ich und was will ich wirklich?

Mit Hilfe des Reiss Profiles können wir genauer analysieren, welche Motive und Wünsche uns in Beruf und Alltag antreiben. Das Reiss Profile nutzt uns außerdem dazu, den Ursachen für Unstimmigkeiten in der Kommunikation auf den Grund zu gehen. Dies ist auch für die Pflege von Menschen mit Demenz von Bedeutung.

In unserer Reihe “Persönlichkeitspsychologie für Pflegende” stellen wir verschiedene Persönlichkeitstests vor, die für Pflegende und Entscheider nützlich sein können, um beispielsweise Missverständnisse und Unstimmigkeiten in der Kommunikation zu lösen. Insbesondere in der Versorgung von Menschen mit Demenz können Irritationen in der Kommunikation häufiger auftreten. Wenn wir aber unsere eigenen Motive und die Motive unserer Mitarbeiter sowie die Bedürfnisse und Werte von Menschen besser kennen, für deren Pflege wir verantwortlich sind, können wir auch wesentlich produktiver agieren. Vor einiger Zeit hatten wir in diesem Zusammenhang bereits das Reiss Profile vorgestellt. Das Reiss Profile ermöglicht es anhand von 16 grundlegenden Werten, individuelle und aussagekräftige Motivationsprofile zu erstellen. In diesem Beitrag wird das Buch “Wer bin ich und was will ich wirklich?” von Steven Reiss besprochen, das eine gute Ergänzung zu der Beschäftigung mit dem Reiss Profile darstellt.

Steven Reiss ist Professor für Psychologie und Psychiatrie an der Ohio State University und Direktor des Nisonger Center für Mental Retardation. Er hat zusammen mit seinem Team in jahrelanger Forschung ein Instrument entwickelt, mit dem wir unsere Persönlichkeit genauer analysieren können. In dem Buch “Wer bin ich und was will ich wirklich?” wird im Einleitungskapitel näher dargestellt, wie sich die 16 Lebensmotive im Laufe der Forschung herauskristallisiert haben. Er und seine Kollegen haben über Jahre mehr als 6000 Menschen befragt. Bemerkenswert an dem Reiss Profile ist außerdem die Möglichkeit, nicht nur die eigenen Motive und Werte genauer zu analysieren, sondern diese Analyse ebenso um weitere Personen zu ergänzen.

So wird dieses Instrument beispielsweise auch dazu genutzt, Probleme in der Kommunikation von Paaren zu beheben. Denn wenn wir genauer wissen, welche Motive für zwei Personen, die sich lieben von Belang sind, können wir auch genauer untersuchen, wo die Ursachen für Probleme in der Kommunikation liegen und wie sich diese möglicherweise lösen lassen. So kann es beispielsweise problematisch sein, wenn eine Person in einer Beziehung Macht wichtig ist, während für die andere Person vor allem Idealismus von Bedeutung ist. Reiss nennt in seinem Buch verschiedene Beispiele von berühmten Paaren, die einzelne Lebensmotive miteinander teilen. Dabei geht er davon aus, dass sich Gleiches anzieht. Als Beispiel für das Motiv Macht nennt er Bill und Hillary Clinton. Sie können ihre Träume gemeinsam verfolgen und sich gegenseitig bei der Erreichung ihrer Karriereziele unterstützen. Problematisch würde es hingegen sein, wenn einer der beiden Partner unter dem ausgeprägten Bedürfnis nach Macht leiden würde.

Probleme in der Kommunikation sind ebenso in der Pflege von Menschen mit Demenz alltäglich. Daher ist auch vorstellbar, das Reiss Profile dazu zu nutzen, einzelne Motive für bestimmte Verhaltensweisen mit den Motiven von jenen Menschen abzugleichen, die wir pflegen, oder uns zumindest besser auf deren Bedürfnisse einzustellen.

Reiss unterscheidet insgesamt zwischen 16 Lebensmotiven.

Die 16 Lebensmotive nach Steven Reiss

  1. Anerkennung: Streben nach sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit
  2. Beziehungen: Streben nach Freundschaft und Austausch
  3. Ehre: Streben nach Loyalität und Integrität
  4. Eros: Streben nach Erotik und Schönheit
  5. Essen: Streben nach Nahrung
  6. Familie: Streben nach Familienleben und eigenen Kindern
  7. Idealismus: Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Fairness
  8. Körperliche Aktivität: Streben nach Fitness und Bewegung
  9. Macht: Streben nach Erfolg, Leistung, Führung und Einfluss
  10. Neugier: Streben nach Wissen, Wahrheit, Erkenntnis
  11. Ordnung: Streben nach Stabilität, Klarheit und guter Organisation
  12. Rache: Streben nach Konkurrenz, Kampf, Aggressivität und Vergeltung
  13. Ruhe: Streben nach Entspannung und emotionaler Sicherheit
  14. Sparen: Streben nach Besitz und Anhäufung materieller Güter
  15. Status: Streben nach Prestige, nach Reichtum, Titeln und öffentlicher Aufmerksamkeit
  16. Unabhängigkeit: Streben nach Freiheit und Selbstgenügsamkeit

Warum die Lektüre des Buches für Pflegende lohenenswert ist

Um ein persönliches Profil, ein sogenanntes Reiss Profile zu erstellen, kann im Internet ein kostenpflichtiger Test gemacht  werden. Für den Test benötigen Sie in etwa 15 bis 20 Minuten Zeit. Genauere Informationen zu diesem Test finden Sie hier: https://www.reissprofile.eu/websites/3/Dokument_zur_Wissenschaftlichkeit_ Fassung_08_2014.pdf. Wobei der Test in der Basisversion 300,- Euro kostet.

Der Vorteil des Buches liegt darin, dass Sie diese Kosten nicht aufwenden müssen, da der Test auch in dem Buch “Wer bin ich und was will ich wirklich?” enthalten ist (und zwar im Anhang). In dem Test sind die einzelnen Lebensmotive noch einmal aufgelistet und mit Aussagen versehen. Bei den Aussagen geht es zunächst darum, die Ausprägung in den einzelnen Motiven zu erfassen: Bewerten Sie beispielsweise Ihr Machtbedürfnis als sehr groß, als durchschnittlich oder als gering? Die Aussagen, die Sie bewerten sollen, lauten dann beispielsweise so: “Im Vergleich zu anderen Menschen Ihres Alters sind Sie äußerst ehrgeizig” oder “Im sozialen Kontakt mit Menschen Ihres Alters dominieren Sie gewöhnlich die Situation”. Schließlich tragen Sie Ihre Ergebnisse in einer Tabelle ein, um Ihr persönliches Profil zu erstellen. Im Mittelteil des Buches gibt es außerdem die Gelegenheit, einen ähnlichen Test zu durchlaufen, der auf zwei Personen bezogen ist; hier am Beispiel von Paaren.

Als besonders erkenntnisreich empfand ich die Möglichkeit, nicht nur sein eigenes Profil zu erstellen, sondern dieses auch auf das Profil einer anderen Person zu beziehen. Das könnte ich mir auch in der Pflege von Menschen mit Demenz gut vorstellen, gerade wenn Sie mit einer Person, die Sie pflegen, relativ viel Zeit verbringen. Speziell in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz kann unser Bewusstsein für gegensätzliche Motive und Bedürfnisse gestärkt werden, da wir häufig von unseren eigenen Bedürfnissen auf die Bedürfnisse von anderen Menschen schließen, und nicht verstehen, wie Menschen ein und dasselbe Bedürfnis völlig unterschiedlich empfinden und bewerten.

So kann ein Mensch, der ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Macht empfindet, über andere Menschen denken, dass diese faul und schwach seien, während auf der anderen Seite über den Menschen mit starkem Geltungs- und Machtbedürfnis womöglich gedacht wird, dass dieser immer so überengagiert und herrschsüchtig auftritt. Im Alltag vergessen wir das viel zu oft – diese Differenz in der Wahrnehmung und Beurteilung von Personen!

Auf Pflege bezogen, kann es beispielsweise ein Problem darstellen, wenn eine Person, die an Demenz leidet, einen starken Drang nach Unabhängigkeit verspürt. Denn Pflegende können unter Umständen mit diesem Wert ein Problem haben, da sie selber vielleicht Idealismus und Beziehungen als Werte präferieren. Wenn also die eine Person die Pflege ablehnt, weil sie an sich auch weiterhin unabhängig sein will, kann die andere Person, die pflegt, das als Affront auffassen, da sie nicht verstehen kann, warum Menschen Hilfe ablehnen.

Mit dem Reiss Profile können wir lernen, das “gegenseitige Unverständnis” in der Kommunikation zu lindern. Denn dieses Instrument ermöglicht uns mit relativ wenig Aufwand fundiertere Einsichten in die Bedürfnisstruktur von Menschen, die wir pflegen, wenn wir uns erst einmal genauer mit diesem Instrument in Theorie und Praxis auseinandergesetzt haben.

Kritik

Gelegentlich wird der Persönlichkeitspsychologie vorgeworfen, dass sie nicht wirklich wissenschaftlich sei. Dies gilt auch für das Reiss Profile. Die Aussagen, die in dem Buch von Reiss über die einzelne Lebensmotive getroffen werden, sind häufig sehr allgemeine Beschreibungen, die man in jede Richtung drehen kann. Da der Test auch in Unternehmen angewendet wird, müsste zumindest wissenschaftlich abgesichert sein, ob der Test auch tatsächlich das misst, was er messen soll. In der Wissenschaft sprechen wir von “Validität”. Ich stelle mir vor diesem Hintergrund die zukünftigen Mitarbeiter eines Unternehmens vor, die Fragen zu allen 16 Lebensmotiven beantworten sollen, bevor sie eingestellt werden. Und ich kann dabei nur allzu gut verstehen, dass Personen da Bedenken haben, denn ein solches Instrument müsste in diesem Bereich so abgewandelt werden, dass nur solche Informationen abgefragt werden, die auch tatsächlich für die Berufswelt von Relevanz sind.

Fazit

Ich kann das Buch “Wer bin ich und was will ich wirklich?” eingeschränkt empfehlen. Wer mehr über seine eigenen Lebensmotive erfahren will, kann durch die intensivere Beschäftigung mit diesem Buch eine Menge lernen. Noch interessanter finde ich es allerdings, das Reiss Profile auf andere Personen anzuwenden, und sich dabei die Frage zu stellen, wo Paralellen und wo Differenzen in den Motiven vorliegen. Das kann in Paarbeziehungen, in der Arbeitswelt, aber insbesondere auch in der Beschäftigung mit Menschen mit Demenz erkenntnisreich sein. Allerdings sollten wir die Ergebnisse dieses Tests nicht überbewerten. Das Buch liefert dazu nützliche Zusatzinformationen, ist aber auf der anderen Seite zuweilen auch recht beliebig in den Beschreibungen – daher auch “nur” bedingt empfehlenswert!

Das Buch “Wer bin ich und was will ich wirklich?” von Steven Reiss ist 2009 im Redline Verlag erschienen. Hier der Link zum Buch.

Quellenangabe zum Titelfoto:

Foto: MarcoG. Photography / www.flickr.com

Marcus Klug arbeitet aktuell als Kommunikationswissenschaftler und Social Media Manager am Dialog- und Transferzentrum Demenz (DZD) und betreut dort das Projekt Wissenstransfer 2.0. Das Projekt wurde bereits mit dem Agnes-Karll-Pflegepreis 2013 ausgezeichnet. Sein Schwerpunkt liegt auf Wissenskommunikation im Social Web. Daneben betreibt er als hauptverantwortlicher Redakteur seit Mai 2012 zusammen mit Michael Lindner Digitalistbesser.org: Plattform für Veränderung und lebenslanges Lernen. Kontakt: marcus.klug@uni-wh.de.

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